19.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Folge 28-22 vom 15. Juli 2022 / Kriegsfolgen / „Der Ärger kommt nur von den Pomuchelsköppen da oben“ / Wehmut auf beiden Seiten – Wie sich der Ukrainekrieg auf die deutsch-russischen Beziehungen auswirkt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28-22 vom 15. Juli 2022

Kriegsfolgen
„Der Ärger kommt nur von den Pomuchelsköppen da oben“
Wehmut auf beiden Seiten – Wie sich der Ukrainekrieg auf die deutsch-russischen Beziehungen auswirkt

Seit dem 24. Februar hat sich die Welt verändert. Da begann ein Krieg, der nicht auf einem anderen Kontinent stattfindet, sondern von dem wir unmittelbar betroffen sind. Russland und die Ukraine – hier in unserem Alltag leben wir mit Menschen aus beiden Ländern zusammen.

Meine Nachbarin lässt sich nur von Olga ihre Dauerwelle machen. Olga kommt aus der Ukraine. Mein Augenarzt in der Gemeinschaftspraxis ist ein Russe aus der Nähe von Sankt Petersburg. Meine engste Freundin ist eine Deutsche aus Russland, und ein Kollege von mir war froh, als er eine russische Pflegekraft bekam. Seine Haushaltshilfe ist übrigens eine Polin aus Breslau.

Und nun ist eine andere Realität über uns hereingebrochen. Plötzlich gibt es Feinde, ein furchtbares Flüchtlingselend ruft bei den deutschen Vertriebenen die schlimmsten Erinnerungen wach, dazu ein Medienkrieg, der den „Normalverbraucher“ irgendwann allen Nachrichten gegenüber unsicher werden lässt. 

Es trifft besonders diejenigen, die zwischen die Fronten geraten, die sich nicht für eine Seite entscheiden können. Das sind zunächst die Russen und die Ukrainer selbst. Die meisten sind doch „gemischt“. Ständig erfährt man: „Meine Mutter stammt aus der Ukraine“, oder: „Ich bin Ukrainer, meine Frau ist Russin“. Und dann so ein Krieg! Ein Bruderkrieg – und in allen E-Mails und Telefongesprächen gibt es nur den Wunsch, dass diese Heimsuchung bald vorbei sein möge.

Noch komplizierter ist die Situation der Deutschen aus Russland, denn hier geht die Frage nach der Identität und der Zugehörigkeit verschlungene Wege. In einer Talkshow war die Autorin Katharina Martin-Virolainen zu Gast, Jahrgang 1986, die seit 1997 in Baden-Württemberg lebt. Sie kam mit ihren Eltern aus Kasachstan. In der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist sie sehr aktiv, im „Frauenverband im Bund der Vertriebenen“ wurde sie zur Vizepräsidentin gewählt. 

Der 24. Februar riss bei ihr eine Wunde auf, die sie von ihren russlanddeutschen Vorfahren geerbt hat. Die Oma wurde als Deutsche aus der Ukraine nach Kasachstan deportiert und litt unter Heimweh nach der ukrainischen Heimat. Die Enkelin publiziert Bücher auf Deutsch, aber sie sagt: „Russisch ist meine erste Muttersprache!“ 

Der Krieg hat einen Keil zwischen Russland und Deutschland getrieben, so wie er in den Familien Spaltungen und Zerwürfnisse hervorgerufen hat. Es entsteht Angst, dass die bisher gelungene Versöhnung zwischen Deutschland und Russland vielleicht auf lange Zeit beeinträchtigt, wenn nicht gar zerstört wird. Das tut weh.

Unerreichbarer Sehnsuchtsort

Diese Sorge belastet eine weitere Gruppe: die früheren deutschen Bewohner des nördlichen Ostpreußens und die heutigen russischen Bewohner des Königsberger Gebiets. Die deutschen Vertriebenen dieser Region traf das Vertreibungsschicksal besonders hart. Während die Schlesier, Ermländer, Masuren und Pommern seit den Ostverträgen 1970 ihre Heimat besuchen konnten, blieb den Königsbergern und Samländern ihre Heimat bis 1991 verschlossen. Das Sperrgebiet wurde zum unerreichbaren Sehnsuchtsort, zur Obsession.

Umso eindrucksvoller war die Erfahrung, als die Deutschen wie Gäste von den Russen empfangen wurden, als habe es die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht gegeben. Als 2004 ein Gottesdienst in der Gedenkstätte Germau gefeiert wurde, stellte der Pastor seine Predigt unter das Wort Gottes zu Moses: „Ziehe deine Schuhe aus, denn wo du stehst, ist heiliges Land.“ Heiliges Land, von Blut und Tränen getränkt. Zehn Jahre vorher, bei einer Jubiläumsfeier 1994, sagte die russische Reiseleiterin: „Wir können alle nichts dafür, dass die Geschichte so gelaufen ist!“

So nahmen sowohl die russischen Bewohner wie die deutschen Gäste sich die Aufgabe vor, die Geschichte umzulenken. Kontakte wurden vertieft, Freundschaften entstanden, gemeinsame Projekte wurden angegangen. Alle Samländer, ob sie ein- oder zweimal zu Besuch waren oder ob sie zu den „Dauerfahrern“ gehörten, berichten über die gleichen Erfahrungen: Freundliches Entgegenkommen, große Hilfsbereitschaft und herzliche Gastfreundschaft brachten ihnen die russischen Bewohner entgegen. Wer oft hinfuhr und privat wohnte, hörte bald den Satz: „Sie ist eine von uns!“ Und noch deutlicher drückte es ein russischer Freund über seinen alljährlichen deutschen Feriengast aus: „Ich habe sein Elternhaus gekauft, und wenn er kommt, schläft er in seinem Kinderzimmer.“

Nun zieht die Politik den Königsbergern und Samländern den Boden unter den Füßen weg. Russen und Deutsche leiden gemeinsam und müssen sich gegenseitig Mut zusprechen. War alles bisher vergeblich? Hatten wir alle eine trügerische Hoffnung, Versöhnung und Frieden verwirklichen zu können? 

Die deutschen Samländer können weiterhin von ihren guten Erfahrungen und glücklichen Stunden in ihrer Heimat berichten, unterstützt von den russischen Freunden dort. Einer von ihnen, Germanist und Fremdenführer, rief einmal laut in Königsberg über den Domplatz: „Der Ärger kommt doch nur von den Pomuchelsköppen da oben!“ Großer Schreck bei den deutschen Gästen. Aber es stimmt ja. „Oben“ wird manches in Gang gesetzt, was den Menschen Kummer und Leid bringt. „Unten“ bei den einfachen Leuten gelingt es trotzdem immer wieder, gut und verträglich zusammenzuleben.B.B.