26.04.2024

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Folge 29-22 vom 22. Juli 2022 / Zwischenruf / Ein verdrängter Notstand

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-22 vom 22. Juli 2022

Zwischenruf
Ein verdrängter Notstand
Josef Kraus

In Deutschland gibt es rund 780.000 Lehrer auf rund 670.000 vollen Lehrerstellen. Angesichts dieser Zahlen kann man sich nicht vorstellen, dass Lehrer fehlen. Doch, und zwar zu Zigtausenden! Wie viele es exakt sind, kann man nicht genau beziffern, denn die 16 Schulminister der deutschen Länder wollen diese Zahl selber nicht so genau wissen. 

Vor allem aber versuchen die 16 deutschen Schulminister den Lehrermangel mit einem Flickenteppich an Maßnahmen zu beheben – besser: zu vertuschen. Lehramtsstudenten werden eingespannt, Quereinsteiger angeworben, Klassen zusammengelegt, die Pflichtstundenmaße der Lehrer erhöht, freiwillige Arbeitszeitkonten für Lehrer eingerichtet, Unterrichtsstunden der Klassen gekürzt. Wenn es um halbgare Maßnahmen ging, waren und sind die Damen und Herren Schulminister ziemlich kreativ. Und schon stimmt die Statistik wieder. 

Womöglich kommt über kurz oder lang wieder ein Modell zum Tragen, das der damalige NRW-Kultusminister Paul Mikat (CDU) im Jahr 1963 angesichts eines dramatischen Lehrermangels ins Leben rief: Er stellte Mamas und Papas als Lehrer ein. Daraus sind – in Anlehnung an des Ministers Namen – „Mikätzchen“ und „Mikater“ geworden. Mikat wollte damit den rapiden Geburtenanstieg und den nachfolgenden riesigen Zuwachs an Schülern bewältigen, und er wollte verhindern, dass die Klassen auf mehr als 50 Köpfe anwüchsen. Sehr erfolgreich war das Programm freilich nicht: 1963 begannen 1910 Frauen und 434 Männer mit der Schnellausbildung zur Lehrkraft, um ab 1964 zu unterrichten.

Der Magdeburger Modellversuch 

Jetzt erreichen uns eigenartige Meldungen aus Sachsen-Anhalt. Dort will man den Lehrermangel bewältigen, indem man Unterricht kürzt und diese Kürzung auch noch kreativ umbenennt. Und zwar so: Sachsen-Anhalt führt modellhaft für zunächst zwölf Schulen eine 4+1-Schultagewoche ein. Das heißt: An vier Tagen findet (halbwegs?) regulärer Unterricht statt. Ein fünfter Tag ist „selbst organisiertem Lernen“ oder Betriebsbesuchen gewidmet. Man mag sich einmal vorstellen, was das für ABC-Schützen bedeutet, denen erst einmal die Basis des Lesens, Schreibens und Rechnens beizubringen wäre. 

Nein, das kann nicht die Lösung sein, zumal man davon ausgehen muss, dass Deutschlands Schüler seit März 2020 in nunmehr zweieinhalb Corona-Schuljahren je nach Altersgruppe zwischen 

600 und 1000 Stunden Präsenzunterricht nicht erteilt bekamen. Das sogenannte Homeschooling mittels Digitalisierung hat das nicht wettgemacht. Je jünger die Schüler, desto weniger brachte diese Art von „neuem“ Unterricht etwas. Das Bildungsniveau der Schüler litt darunter, was zunächst nicht auffiel, weil die Noten gleich gut oder gar um noch manches besser wurden als sonst. So haben beispielsweise die Abiturdurchschnittsnoten 2022 neue Höhen erklommen. Schulen mit einem Abiturnotendurchschnitt von 1,9 sowie einem Anteil von 50 und mehr Prozent Absolventen mit einer „1“ vor der Kommanote waren 2022 keine Ausnahmen. Die nachfolgenden Bildungseinrichtungen werden es spüren.

Dabei sind die Bildungsdefizite noch nicht einmal die einzigen Defizite, die die Schülerschaft nach zweieinhalb Corona-Schuljahren mitschleppt: Nein, Schule ist eben auch Ort des sozialen Lernens, des Austauschens mit Gleichaltrigen, des Gewöhnens an demokratische Umgangsformen. Auch hier sind Defizite entstanden, die man an der steigenden Therapiebedürftigkeit vieler Heranwachsender und einer zunehmenden Sucht im Gebrauch elektronischer Medien ablesen kann.

Bleiben wir beim Bildungspart: Statt wie in Sachsen-Anhalt Unterricht zu kürzen, wäre nach den Corona-bedingen Lücken eigentlich ein Nachholprogramm zumindest für schwächere Schüler geboten, etwa mittels Sonnabendunterricht oder mittels Unterrichts an bestimmten Ferientagen, von denen ein deutscher Schüler ja 75 Werktage als Ferientage hat.

Freilich: Mit welchen Lehrern? Sie sind nicht da, denn die Schulminister haben in der Personalplanung versagt. Dabei weist das Schulwesen sehr verlässliche Planzahlen aus; zudem ist der Lehrerbedarf von politischen Setzungen abhängig. Die Schülerzahlen sind auf ein bis zwei Jahrzehnte hinaus prognostizierbar. Der Berufsschüler des Jahres 2038 und der Abi­turient des Jahres 2040 sind schon geboren. Darüber hinaus kennt man die Altersstruktur der Lehrerschaft exakt und weiß, wie viele Lehrer 2030 oder 2040 aus Altersgründen ausscheiden werden. 

Die Politik hat es selbst in der Hand

Drei weitere Faktoren, die den Lehrerbedarf ausmachen, sind Ergebnis politischer Setzungen. Ein Rechenbeispiel: Im Wochenplan einer Klasse eine Stunde zu kürzen, eine Klasse im Schnitt um einen Schüler größer zu machen und von Lehrern eine Pflichtstunde pro Woche mehr zu verlangen, das reduziert den Lehrerbedarf um zehn Prozent. Anders ausgedrückt: Die Politik hat es in der Hand, den Lehrerbedarf auf längere Sicht hinauszuberechnen oder – im negativen Sinn – zu manipulieren. Eines hat die „hohe“ Politik jedenfalls versäumt, nämlich dafür zu sorgen, dass es genügend Bewerber für ein Lehramt gibt. Man hat sich durchgewurstelt. Das rächt sich jetzt – vor allem zulasten der Kinder und Jugendlichen.

Aufgrund demographischer Entwicklungen (aber vorbehaltlich einer willkürlichen Zuwanderungspolitik) werden im Schuljahr 2025/26 etwa 800.000 Lehrer gebraucht, in den Schuljahren 2030 bis 2036 werden es 836.000 sein. Das ist ein Mehrbedarf von recht exakt zehn Prozent. Zehn Prozent, was ist das schon! Nein, man darf nicht vergessen, dass von den jetzt aktiven Lehrern fast ein Viertel über 55 Jahre alt ist. Das heißt: Diese Lehrer (bezogen auf Vollzeitstellen: 190.000) werden binnen der nächsten zehn Jahre aus Altersgründen aus dem Lehrerberuf ausscheiden. Rechnet man also zusammen: In den kommenden zehn bis zwanzig Jahren haben wir einen Mehrbedarf an bis zu 76.000 Lehrern und einen Ersatzbedarf an rund 190.000 Lehrern. 

Alles in allem: Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat sich selten mit Ruhm bekleckert. Jetzt wird es Zeit, dass sich die KMK in Sachen Lehrerversorgung auf die Hinterbeine stellt und ihr Schritttempo beschleunigt. Damit sie endlich ihren Ruf ablegen kann, im Tempo einer „griechischen Landschildkröte“ zu arbeiten (so der damalige Bundesbildungsminister Jürgen Möllemann, FDP). 






Josef Kraus war von 1987 bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrverbandes. Zu seinen Büchern gehört unter anderem „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ (Herbig 2017).