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Folge 29-22 vom 22. Juli 2022 / Zeitgeschichte / Die Zwischenkriegszeit in polnischen Quellen / Der in der DDR sozialisierte Historiker Holger Michael schildert die prägenden Ereignisse für die Zweite Polnische Republik

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-22 vom 22. Juli 2022

Zeitgeschichte
Die Zwischenkriegszeit in polnischen Quellen
Der in der DDR sozialisierte Historiker Holger Michael schildert die prägenden Ereignisse für die Zweite Polnische Republik
Karlheinz Lau

Holger Michael ist in der DDR geboren, dort aufgewachsen und im Sinne des sozialistischen Systems erzogen und politisiert worden. Das prägt bis heute seine politische Position – so die eigenen Angaben im Vorwort des Buches „Zwischen den Kriegen. Polens Außenpolitik 1919–1939“. In seiner Arbeit benutzt er überwiegend polnische Quellen, die für einen deutschen Leser in der Regel kaum erreichbar und mangels sprachlicher Kenntnisse auch nicht zu verstehen sind. Sein Leben ist eng mit der Republik Polen verbunden: Er studierte in Warschau und Breslau, war Polenspezialist an der Akademie der Wissenschaften der DDR, ist Deutschlehrer in Polen und Polnischlehrer in Deutschland. 

In 15 Kapiteln wird die Außenpolitik der Zweiten Polnischen Republik von 1919 bis 1939, also zwischen den beiden Weltkriegen, behandelt. Der Autor beginnt allerdings nicht mit dem Jahr 1919, als die 123 Jahre währende Teilung Polens (Königreich Preußen, zaristisches Russland und die Habsburger Monarchie) durch die Niederlage des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns beendet wurde. Polen wurde ein selbstständiger Staat. Dieses Ereignis wird erst im siebten Kapitel „Polen in den neuen Grenzen“ behandelt. 

Der 11. November ist bis heute nationaler Feiertag für die Polen. Michael behandelt die Vorgeschichte, die bis zu den Teilungen 1792, 1793 und 1795 zurückreicht. Es ist überwiegend eine innerpolnische Geschichte des 19. Jahrhunderts in den drei sich unterschiedlich entwickelnden Teilungsgebieten. Die vielfältigen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, geistigen sowie religiösen Strömungen vermitteln das Bild eines zerrissenen Volkes, das sich mit der Teilung und Besetzung durch fremde Mächte nicht abfinden will. 

Dabei spielen naturgemäß die Nachbarvölker eine Rolle. Das Verhältnis zum westlichen Nachbarn Preußen-Deutschland ist seit den Kreuzrittern und der Ostkolonisation beziehungsweise Ostsiedlung von fast ewiger Feindschaft und ewigem Misstrauen geprägt. Das wirkt sich unterschwellig bis in unsere Gegenwart aus. Diese emotionale Distanz konnte trotz positiver Entwicklungen der Infrastruktur im preußischen Teilungsgebiet nicht überwunden werden. 

Von Feindschaft geprägt

Ein weiterer neuralgischer Punkt war Litauen, wo um Wilna bis heute eine starke polnische Minderheit lebt. Die Nachbarn Weißrussland sowie das Zarenreich wurden als gefährliche Feinde einer polnischen Unabhängigkeit eingeschätzt. Ambivalent war auch das Verhältnis zur Ukraine. Schlüsselereignisse waren dann die Niederlagen Deutschlands und der Habsburger Monarchie sowie die russische Oktoberrevolution 1917. Das revolutionäre Russland verkündete die Selbstständigkeit der unter der Zarenherrschaft unterworfenen Völker. Dazu zählte auch die Ukraine, deren Ostteil russisch zugewandt, der Westteil hingegen antirussisch und prowestlich eingestellt war. Dies gilt bekanntlich bis heute. 

In den Jahren nach 1917 traten die selbstständigen Völker freiwillig der kommunistischen Sowjetunion bei, und damit wurde für das selbstständige Polen die außenpolitische Konstellation klar. Im Osten die Sowjetunion, im Westen das besiegte Deutsche Reich, das heißt, Polen zwischen den Großmächten. Das musste für die Existenz des Staates eine bedrohliche Situation sein, auch in Erinnerung an die Teilungen. 

Diese geopolitische Lage bestimmte die polnische Außenpolitik bis zum 1. September 1939. Dabei müssen innenpolitisch drei Faktoren berücksichtigt werden, die durchaus auch außenpolitische Bedeutung bekamen. Das wiedererstandene Polen war ein Vielvölkerstaat. Die stärksten Minderheiten waren Ukrainer mit 14,3 Prozent und Juden mit 7,8 Prozent. Diese wurden nicht als Glaubensgemeinschaft gesehen, sondern als Nation. Der Anteil der Deutschen betrug 3,9 Prozent. Zumindest bei Ukrainern und Deutschen gab es politischen Zündstoff. 

Ein zweiter Faktor war die katholische Kirche, die nicht nur während der Teilungszeit, in der Zwischenkriegszeit 1919 und 1939, während der NS-Besetzung und der Zeit des Kommunismus entscheidender Träger eines polnischen Nationalgefühls war. Auch heute gilt das Land als feste katholische Bastion. Ein drittes Feld war das Zusammenführen der drei unterschiedlich entwickelten ehemaligen Teilungsgebiete. 

Michael schildert die für den souveränen Staat Polen wichtigsten außenpolitischen Ereignisse, die stets durch die geopolitische Lage zwischen Deutschland und Russland bestimmt werden. Die von Deutschland nicht anerkannte deutsch-polnische Grenze, Danzig, der Korridor nach Ostpreußen, die Landverluste in der Region Posen und der Industriebezirk Oberschlesien waren eine schwere Hypothek für die Zwischenkriegszeit. Der Rapallo-Vertrag 1922 zwischen Deutschland und Sowjetrussland erhöhte die polnischen Befürchtungen einer Bedrohung. Diese wurde verstärkt durch den Beitritt der ukrainischen und der belorussischen Sowjetrepubliken zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken 1922/23. 

Verteidigung der Souveränität

Der Autor beschreibt die 30er Jahre als das stete Bemühen der polnischen Außenpolitik, sich aus der Umklammerung durch Deutschland und der Sowjetunion zu lösen. Es waren Bemühungen um Bündnisverträge mit Frankreich oder Großbritannien, aber auch mit dem östlichen Nachbarn. Entscheidender Politiker auf polnischer Seite war Marschall Piłsudski, dessen Linie auch nach seinem Tod verfolgt wurde. 

Eckdaten waren der deutsch-polnische Vertrag von 1934, das Problem der Tschechoslowakei rund um das Münchener Abkommen, das die wahren Ziele der hitlerischen Außenpolitik zeigte. Fast folgerichtig wurden Danzig und die Forderung eines Korridors zwischen dem Reichsgebiet und Ostpreußen auf die Tagesordnung gesetzt. Der Versuch der polnischen Politik, ein Bündnis zwischen der Sowjetunion und den Westmächten zum Schutze Polens zu schaffen, scheiterte am Widerstand Warschaus, für sowjetische Truppen ein Durchmarschrecht durch Polen zu verlangen. Damit war eine Entscheidung für einen Angriff Deutschlands auf den östlichen Nachbarn gefallen. Es folgte der Hitler-Stalin-Pakt 1939.

Ohne Zweifel muss anerkannt werden, dass Michael mit Gründlichkeit und Fleiß das gesamte Spektrum der polnischen Außenpolitik unter Auswertung polnischer Quellen beschreibt. Aus Sicht eines deutschen Lesers ist das zu einseitig. Zu dem Thema gibt es in Deutschland eine große Zahl qualifizierter Fachleute. Der verhältnismäßig lange Vorlauf zum Jahr 1919 ist wichtig und nützlich, weil er zeigt, wie die innergesellschaftlichen Strömungen aus der Teilungszeit in die neue Souveränität hineinwirken. 

Eine Aussage darüber, welchen Stellenwert die Arbeit von Michael in der aktuellen polnischen wissenschaftlichen Diskussion über das Thema hat, kann nicht gemacht werden. Die Frage bleibt, welche neuen Erkenntnisse die Arbeit vornehmlich für Leser in Deutschland bringt. Sie bringt keine neuen Tatsachen, zeigt aber die Tendenz ihrer Interpretation durch den Autor. 

Hier muss Marschall Piłsudski genannt werden. Er zeigte sich wiederholt als Freund der Sowjetunion und ihres politischen Systems. Die Hauptverantwortung am Ausbruch des Krieges sah er bei den Westmächten. Folgendes Zitat zeigt seine Haltung: „Polen war somit der erste Staat, der vor dem neuen Weltkrieg den Nazis Paroli bot und sich nicht auf unwürdige Verhandlungen und Kompromisse einließ.“ Leider wird der Wert der gesamten Arbeit eingeschränkt durch die Tatsache, dass keine Karten die Ausführungen begleiten. Gerade bei diesem Thema bietet sich das geradezu an. Gleiches gilt für das Fehlen einer Zeittafel.

Holger Michael: „Zwischen den Kriegen. Polens Außenpolitik 1919–1939“, Verlag edition ost, Berlin 2022, gebunden, 416 Seiten, 30 Euro