29.03.2024

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Folge 30-22 vom 29. Juli 2022 / Kirchenkunst / Marmorner Bildteppich / Der lange Weg zur Weisheit – Sienas Dom lüftet für kurze Zeit die Geheimnisse seines Marmorfußbodens

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-22 vom 29. Juli 2022

Kirchenkunst
Marmorner Bildteppich
Der lange Weg zur Weisheit – Sienas Dom lüftet für kurze Zeit die Geheimnisse seines Marmorfußbodens
Helga Schnehagen

Der Dom von Siena in der Toskana, ein Hauptwerk am Übergang von der Romanik zur Gotik in Italien, ist mit seinem dekorativen Reichtum, seiner üppigen Ausstattung und seinen Sammlungen in Gänze selbst bei mehrmaligem Besuch nicht zu erfassen. Daher konzentriert sich der Besucher – wie anderswo auch – auf die Hauptwerke. 

Berühmtestes Einzelstück der Ausstattung ist die auf neun Säulen ruhende Marmorkanzel mit ihren figurenreichen Brüstungs-Reliefs. Das Kunstwerk wurde von 1266 bis 1268 von Nicola Pisano zusammen mit seinem Sohn Giovanni und Gehilfen als zweite der vier großen Pisani-Kanzeln nach dem älteren Vorbild im Baptisterium von Pisa gearbeitet. 

Beispiellos dagegen ist der die Kathedrale dominierende Marmorfußboden. Mit seinen 56 Feldern ist er „der schönste, größte und prächtigste, der je geschaffen wurde“, rühmte ihn schon Giorgio Vasari (1511–1574), der Renaissancemaler und „Vater der Kunstgeschichte“. Ohne die unerbittliche Konkurrenz unter den Städten der Toskana, besonders natürlich zu Florenz, wäre dieses einzigartige Meisterwerk wohl kaum entstanden.

Der sich über eine Fläche von 1300 Quadratmetern ausbreitende Bildteppich wurde von 1369 bis 1562 von über 40, meist sogar namentlich bekannten Künstlern geschaffen. Bis zum 19. Jahrhundert kamen noch einige Ergänzungen und Renovierungen hinzu. Das komplexe Programm ist eine Art verbildlichte Weltchronik – vom Heidentum über das Judentum bis an die Schwelle des Christentums, wobei Jesus Christus ständig evoziert, aber nie wirklich auf dem Boden dargestellt wird, da er auf dem Altar anwesend ist. Dabei kreist alles um die Suche nach Weisheit – in der heidnischen Antike, aber vor allem innerhalb des christlichen Glaubens. 

Die Darstellungen der Sibyllen und Propheten, biblischen Szenen, Allegorien sowie die Wappen italienischer Städte wurden anfangs in Graffito-Technik ausgeführt. Dazu wurden die Linien in den Marmor filigran eingeritzt und mit Teer ausgefüllt. Später schuf man mit mehrfarbigen Marmorstücken kunstvolle Intarsien-Bilder.

Den Weg zur Erkenntnis besonders anschaulich ins Visier nimmt das vierte Bild im Kirchenschiff. Dazu beauftragte man 1505 den aus Perugia (Umbrien) stammenden Maler Pintoricchio mit dem Entwurf. Die komplexe Allegorie zeigt Fortuna, der es nach einer stürmischen Seereise gelungen ist, eine Gruppe weiser Männer auf einer felsigen Insel abzusetzen, wo sie einen schroffen Hügel erklimmen müssen, um zu der auf dem Gipfel thronenden Weisheit zu gelangen. 

Die Botschaft ist klar: Wenn man es schafft, alle Schwierigkeiten und Fallstricke zu überwinden, wird man mit Ruhe und Frieden belohnt. Die flankierenden Philosophen Sokrates und Krates verweisen auf das Land der Griechen als Hort der Weisheit.

Zu seinem Schutz ist der Marmorfußboden meist abgedeckt. Auch in diesem Jahr wird er jedoch wieder für einige Zeit freigelegt: Und zwar aktuell noch bis diesen Sonntag sowie vom 18. August bis 18. Oktober 2022.

Reservierung von Dom- und Museumseintritt (8 Euro) mit kostenlosem Audioguide auf dem Smartphone oder Buchung einer geführten Besichtigung über das Internet möglich: www.operaduomo.siena.it (auf Italienisch und Englisch)