20.04.2024

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Folge 30-22 vom 29. Juli 2022 / Literatur / Chronist russischer Selbstzerstörung / Am 18. Juni jährte sich der Todestag des sowjetischen Schriftstellers Lew Kopelew zum 25. Mal. Erinnert wurde daran kaum. Gedanken eines Zeitgenossen, der Kopelew vor vierzig Jahren persönlich begegnete

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-22 vom 29. Juli 2022

Literatur
Chronist russischer Selbstzerstörung
Am 18. Juni jährte sich der Todestag des sowjetischen Schriftstellers Lew Kopelew zum 25. Mal. Erinnert wurde daran kaum. Gedanken eines Zeitgenossen, der Kopelew vor vierzig Jahren persönlich begegnete
Klaus Weigelt

Lew Kopelew gehört zu den wenigen Menschen, die bei mir einen unauslöschlichen persönlichen Eindruck hinterlassen haben. 1981 waren er und seine Frau Raissa aus der Sowjetunion ausgebürgert worden. Heinrich Böll hatte sie in Köln aufgenommen. Mir war nach meinem Dienst für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Lateinamerika 1981 die Aufgabe übertragen worden, die Politische Akademie der Stiftung (1981–1992) in Schloss Eichholz bei Wesseling aufzubauen. Dorthin lud ich Kopelew im Sommer 1982 zu einer Lesung ein.

Lew Kopelew hatte Germanistik in Moskau studiert und war im Zweiten Weltkrieg von 1941 bis 1945 für die Sowjetunion im Fronteinsatz. Am 5. April 1945 wurde Kopelew, Oberinstrukteur für die „Arbeit unter den feindlichen Truppen des Gegners und in der Feindbevölkerung“, wegen „Propagierung des bürgerlichen Humanismus“ und „Mitleid mit dem Feind“ festgenommen und trat seinen bis 1954 dauernden langen und schrecklichen Weg durch sowjetische Straflager und Gefängnisse an. Nach seiner Rehabilitierung 1956 lehrte er in Moskau deutsche Literatur und Theaterwissenschaft und publizierte zahlreiche Arbeiten über Goethe, Brecht, Schiller und Tolstoi. 1968 wurde Kopelew aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und 1977 mit einem Publikationsverbot belegt. 1981 erfolgte die Ausbürgerung. Bis zu seinem Tode lebte er in Köln. Seine Frau, die Schriftstellerin und Amerikanistin Raissa Orlowa-Kopelewa (1918–1989), war schon vor ihm gestorben.

Kopelews bekannteste Werke sind seine „Lehrjahre eines Kommunisten“, die auf Deutsch in Hamburg 1979 unter dem Titel „Und schuf mir einen Götzen“ erschienen sind. Seine Autobiographie der Jahre 1947 bis 1954 erschien auf Deutsch in Hamburg 1981 unter dem Titel „Tröste meine Trauer“. Sein wohl bekanntestes Buch erschien erstmals als deutsche Originalausgabe 1976 unter dem Titel „Aufbewahren für alle Zeit!“ mit einem Nachwort von Heinrich Böll.

Jugend im Stalinismus  

Kopelew entstammte einem bürgerlich-jüdischen Elternhaus im ukrainischen Kiew. Der Enthusiasmus des ersten revolutionären Jahrzehnts riss ihn mit und machte ihn zum Bolschewisten – und überzeugten Russen. Gläubig folgte er der kommunistischen Partei in den brutalen Kampf der Zwangskollektivierung, in die Hungersnöte und Säuberungen der 1930er Jahre, die 3,5 Millionen Opfer forderte. 

Kopelews Bücher sind nicht nur eine unbestechliche Chronik dessen, was er damals erlebte, sondern zugleich eine von furchtloser Wahrheitsliebe geprägte Beichte und ein Bekenntnis seiner eigenen Entwicklung vom Denken als linientreuer Kommunist zum Humanisten. Seine Auskunft über viele Unmenschlichkeiten erbringt den Nachweis einer tiefen, alten Reserve an Menschlichkeit, wie es Böll ausgedrückt hat.

Dieses Hindurchdringen durch die selbstpraktizierte, ideologisch verbrämte Unmenschlichkeit im schmerzhaften Prozess von Leid und Unterdrückung in den Jahren staatlich verordneter persönlicher Entwürdigung, Rechtlosigkeit und Unfreiheit zu einer Klarheit humanistischer und religiöser Auffassungen und einer Haltung der Erkenntnis von Menschenwürde ist bis heute von erschütternder menschlicher und literarischer Glaubwürdigkeit und Kraft. Hier entfaltet sich der Reifungsprozess eines Charakters, wie wir ihn vergleichbar nur noch bei Kopelews Freund Alexander Solschenizyn oder bei Boris Pasternak in seinem unsterblichen Werk „Doktor Schiwago“ nachvollziehen können.

Kopelew hat als 20-Jähriger die große Hungersnot in der Ukraine vor 90 Jahren miterlebt. Wie er damals gehandelt hat, bekennt er ehrlich: „Ich war selbst dabei, suchte und grub nach verstecktem Getreide, mit der eisernen ‚Sonde‘ stieß ich in die Erde – wo sie nachgab, einsackte, war die Grube mit dem Korn. Ich wühlte die Großvätertruhen um und um, hörte nicht auf das Heulen der Weiber, das Winseln der Kinder. Damals war ich überzeugt, daß wir alle die große sozialistische Umgestaltung des Dorfes vollbringen, daß es danach allen Bauern unendlich viel besser gehen würde, daß ihr Jammer, ihr Leiden nur aus ‚mangelnder Bewußtheit‘ stammten oder von den Umtrieben des Klassenfeindes herrührten, daß die, die mich geschickt hatten, besser als die Bauern wußten, wie sie zu leben, zu pflügen, zu säen hätten.“

Aus seinem eigenen Erleben und Handeln folgert Kopelew: „Die Begriffe Gut und Böse, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit waren für uns hohle Abstraktionen. Und ich dachte nicht darüber nach, warum Menschlichkeit abstrakt sei, historische Notwendigkeit oder Klassenbewußtsein aber konkret waren. Begriffe wie Gewissen, Ehrenhaftigkeit, Humanität hielten wir für idealistische Vorurteile, intelligenzlerische, bürgerliche und eben deswegen lasterhafte Vorurteile. – All dies erkannte ich erst viele Jahre später.“

Begegnung mit Ostpreußen

Eine entscheidende Wegmarke zu dieser Erkenntnis war Ostpreußen. Seine Erlebnisse dort schildert Kopelew im Kapitel 11 seines Werkes „Aufbewahren für alle Zeit“. In seiner Tasche befand sich damals das Buch eines deutschen Historikers, das in Königsberg erschienen war: „Russischer Einmarsch in Ostpreußen im August 1914.“ Der Autor notierte „sorgfältig alles, was er Schlechtes an den Russen feststellen konnte. Und weißt du, was das war? Ein Fall von Vergewaltigung, die schuldigen Kosaken wurden erschossen. Einige Fälle von Totschlag. Und jedesmal haben russische Offiziere eingegriffen, haben die Schuldigen bestraft.“

Kopelew zitiert weiter aus dem Buch des aus seiner Sicht nationalistischen Autors, dessen Schilderungen geschlachteter Hühner und ramponierter Obstbäume, seine Kritik an der Kulturlosigkeit und Barbarei der russischen Armee und sein Lob der deutschen Bürgermeister, denen es gelang, die Bevölkerung zu schützen. 

Und dann bricht es aus ihm heraus: „Das heute zu lesen ist schrecklich. Verstehst du, schrecklich und schmachvoll. Damals, das waren Zarenheere! Und nun benehmen sich unsere Leute so unvergleichlich viel roher, grausamer, gemeiner. Die ganze Schande fällt aber auf uns, ja auf uns, die Offiziere und die politischen Leiter. … Welche Rache lehren wir: deutsche Weiber aufs Kreuz legen, Koffer, Klamotten wegschleppen. … Was wird später aus unseren Soldaten, die zu Dutzenden über eine Frau herfielen? Die Schulmädchen vergewaltigten, alte Frauen ermordeten? Sie kommen zurück in unsere Städte, zu unseren Mädchen. Das ist schlimmer als jede Schande. Das sind Hunderttausende von Verbrechern, grausame und dreiste mit den Ansprüchen von Helden.“

Kopelews Gesprächspartner, der ihn später verrät und dafür sorgt, dass er jahrelang im sowjetischen Gulag verschwindet, meint: „Das ist Krieg, Bruder, keine Theorie und keine Literatur. In Büchern, natürlich, da muß es das alles geben: Moral, Humanität, Internationalismus. Das ist alles schön und gut und theoretisch richtig. Aber jetzt lassen wir erst mal Deutschland in Rauch und Flammen aufgehen, danach kann man dann wieder richtige und schöne Bücher schreiben über die Humanität und den Internationalismus. Jetzt kommt es darauf an, im Soldaten den Kampfwillen zu stärken. Das ist der Kern der Sache!“ – Der Gesprächspartner begreift nicht, wie er sich selbst mit diesem Denken den humanistischen Boden unter den Füßen wegzieht.

Hier wird von Kopelew mit dem klaren Blick auf die damalige grausame Realität in Ostpreußen beschrieben und auf den Punkt gebracht, welche politischen, ethischen und moralischen Konsequenzen aus der Barbarei des Krieges für die weitere Existenz einer Gesellschaft folgen, die aus Menschen besteht, die solche Verbrechen begangen haben. Wenn wir die Aktualität des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine sehen, erkennen wir: die äußere Zerstörung und Verwüstung der Ukraine und die innere Zerstörung, die ethisch-moralische Verwilderung und Selbstaufgabe von Teilen des russischen Volkes. Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch sagt: „Russlands Bevölkerung hat sich erfolgreich selbst entmenschlicht.“

Leiden am russischen Vaterland

Darunter hat Lew Kopelew gelitten, wie viele andere russische Künstler, Literaten und Intellektuelle, die für ihre humanistischen Überzeugungen Jahre und Jahrzehnte in der sibirischen Verbannung oder in Gefängnissen litten oder bis heute leiden. Darüber hat uns Kopelew damals, im Sommer 1982, vor vierzig Jahren, berichtet und aus seinen Büchern gelesen. Was ursprünglich auf dem Aktendeckel mit dem Material über Staatsverbrechen nach dem berüchtigten sowjetischen Paragraphen 58 gestempelt stand, „Aufbewahren für alle Zeit!“, ist zur lebenslänglichen Selbstverurteilung Russlands für seine inhumane Behandlung von Menschen freiheitlichen Geistes geworden.

Das Urteil über Kopelew wird in kommunistischer Selbstüberheblichkeit gesprochen: „Unser Gericht – das großmütigste Gericht der Welt –, unsere Staatsanwaltschaft – die humanste der Welt: … Zehn Jahre Freiheitsentzug und fünf Jahre Verlust der bürgerlichen Rechte, Aberkennung des militärischen Ranges und Antrag beim Obersten Sowjet auf Aberkennung der Orden und Ehrenzeichen.“

„Angeklagter, haben Sie verstanden?“

„Nein, nicht verstanden.“

„Mit krächzender, eintöniger Stimme leierte er den Schlußpassus noch einmal herunter: ‚Zehn plus fünf‘. – Jetzt haben Sie hoffentlich verstanden?“

„Nein, nicht verstanden. Wo ist da Gerechtigkeit?“