26.04.2024

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Folge 30-22 vom 29. Juli 2022 / Erinnerungen / Ein Stück Lebensweg durch Königsberg / Die Straßenbahn führte von den Außenbezirken ins Zentrum der Pregelmetropole mit ihren Sehenswürdigkeiten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-22 vom 29. Juli 2022

Erinnerungen
Ein Stück Lebensweg durch Königsberg
Die Straßenbahn führte von den Außenbezirken ins Zentrum der Pregelmetropole mit ihren Sehenswürdigkeiten
Gertrud Papendick

Es sind zweiundzwanzig Jahre gewesen und ein wenig mehr, dass ich, die Ferien abgerechnet, täglich hin und her auf jener Strecke gefahren bin: vom 2. August 1922 bis zum 29. August 1944, am 30. dann nicht mehr. Denn in der Nacht davor war Sinn und Form und Ordnung des Lebens in Flammen untergegangen. 

Zweiundzwanzig Jahre lang lief der Weg des geordneten Lebens in den Schienen der Straßenbahn. Er begann in aller Frühe weit draußen im Westen, wo anfangs noch das Korn gewogt und das Vieh geweidet hatte und dann im Laufe der Zeit das unaufhaltsame Wachstum der Stadt ihre Triebe weiter und weiter hinausschob. Er führte in zahllosen Windungen mit raschem Pulsschlag bis in ihr steinernes Herz hindurch und weiter und weiter abwärts, um dann an ihrem südlichen Rande, wo die Eisenbahn einen deutlichen Querstrich zog, mit einem raschen Halt zu enden. Man kann es auch nüchterner ausdrücken: Es war die Linie 3 von der Hagenstraße bis zum Haberberg.

22 Jahre lang ein geordnetes Leben

Es konnte nicht ausbleiben, dass ich mit der Zeit die Strecke schon allzu genau und fast bis zum Überdruss kannte. Am Nordbahnhof stets das gleiche Gedränge der Umsteigenden, an dem langen Zug des Steindammes Haus um Haus, Laden um Laden – in allen Jahren gab es im Bild der Straße kaum eine Veränderung. Immer quietschten die Räder in den Schienen, wenn es mit angezogenen Bremsen den Schloßberg hinunterging. Auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz standen die Schaffner und Wagenführer zum Schichtwechsel in hellen Haufen. Es ging über die Krämerbrücke, über den Kneiphof und über die Grüne Brücke, hinter der die Börse stand. Es war so, dass man das alles gar nicht mehr sah; doch wirkte es immer ein wenig befreiend, dass da der Pregel war: Das Wasser fließt, vergiss es nicht, mein Herz! Es geht alles weiter, nichts bleibt stehen, das Leben nimmt seinen Lauf. 

Die Stunden rannen, der Vormittag verging, wie schnell war er doch eigentlich vorbei, wenn man so richtig zu schuften hatte. Mittags stieg ich wieder in die Bahn, eilig, hungrig und eigentlich wie völlig ausgenommen, eine einzige Ameise in einem großen Haufen. Aber da stand die Haberberger Kirche hoch über dem weiten Platz, sie überragte als ein weithin sichtbares Wahrzeichen den Bahnhof und das ausgedehnte Schienengelände. Der Spruch an ihrer Nordseite hat zu meinem Leben dieser Jahre gehört wie ein Stück persönlichen Eigentums: 

„Allmächt‘ger Gott, dies Haus, das Dir gehört, hat zwar Dein Zorn durch Blitz und Brand zerstört; Doch hat es Deine Gnad‘ durch milde Hand auch wiederum gesetzt in diesen Stand.“

Die Haberberger Kirche war der Wegweiser des Heimweges, der durch den Zug der Langgassen nordwärts ging. An ihrem Ende stieg dann der Schloßturm hoch, er rückte und wuchs höher hinauf, er holte die anfahrenden Wagen heran, in denen die Kinder seiner Stadt Tag um Tag an seinem Fuß vorüberzogen, und wie sie den Berg in die Höhe. Er stand leuchtend in Himmelsblau und Sonne, dunkel unter Wolkenhängen, stand in Sturm und Regen und Schnee, sommers und winters, unverrückbar durch alle Zeiten, so viele Jahre und Jahre, an guten und schlechten Tagen, stand immer über dem Weg und segnete das Leben ... 

Was war es nur für eine lange Zeit! Ich kannte damals fast alle Schaffner und eine Anzahl Wagenführer. Ich besinne mich genau auf den einen Schaffner mit dem mächtigen, schwarzen Schnurrbart, der sein ganzer Stolz war. Dieser Mann verlor selbst im ärgsten Gedränge niemals seinen Humor. Nicht jeder verstand es so gut. Ich kannte die Fahrgäste vom Morgen und vom Mittag. Ich wusste genau, wer an dieser und jener Haltestelle einstieg, und was es zwischen einigen von ihnen dann für Gespräche geben würde. Manche gehörten zu dem gleichen Betrieb und betrachteten die Straßenbahn bereits als ihr gemeinsames Revier. Man musste die Unterhaltung mit anhören, ob man wollte oder nicht. Zuweilen war es lästig und manchmal erheiternd. Ja, so war es: Die Fahrt konnte eine Anfechtung und ein „Aerjernis“ sein, und mitunter war sie eine Entspannung und so etwas wie ein Vergnügen. 

Keiner kannte des anderen Glück oder Leid

Diese Menschen, die täglich den gleichen Weg zurücklegten, eine nüchterne Fahrt mit der Straßenbahn, sie fuhren wie ich selber durch die Jahre und Jahrzehnte, sie wurden älter und älter und fuhren immer noch, als sollte es nie ein Ende nehmen. Sie fuhren durch alle Unruhe, Angst und Not der Zeiten, sie saßen auf den Bänken rechts und links, sie kannten sich lange und waren einander im Grunde doch fremd, tiefinnerst fremd, keiner wusste von des andern Glück und Leid, Hoffnung und Enttäuschung, Kampf und Verzweiflung oder auch bloß Sorge, Sorge ... Man konnte es ihnen nicht ansehen, und es kümmerte einen nicht. Es hatte jeder mit sich selbst genug zu tun. Ja, so saßen sie auf den Bänken und fuhren durch ihr Leben. 

Wenn es ein paar Monate hintereinander gegangen war ohne Wechsel, ohne Ablösung, wie wenn ein Fährmann immerzu hin und her über einen Fluss setzen muss, dann war ich es richtig leid. Höchste Zeit, dass es Ferien gab! Und eines Tages, wie wenn ein Tier aus der Hürde bricht, kam ein rascher Gang über den Bahnhofsplatz, vom Dienst direkt in den D-Zug und auf und davon. 

Doch bei der Rückkehr stand die Haberberger Kirche unverändert auf der Höhe, und unten zog die Linie 3 ihre Schleife. War es Glück, wieder da zu sein, oder war es Bangigkeit, Unlust, Überdruss? Ich weiß es nicht mehr, vielleicht war es alles miteinander. 

Heute scheint diese lange Fahrt der Vergangenheit seltsam zusammengeschrumpft. Es ist alles nur wie ein einziger Tag. Ich sehe den Pregel unter den Brücken hindurchfließen und sehe vor mir den Schloßturm hoch in den Himmel steigen. 

Oft in den Jahren damals, noch ehe der Krieg über uns kam, hatte ich auf dieser täglichen Fahrt eine seltsame Vorstellung. Sie kam und schwand und kam wieder. Und langsam wurde aus der Ahnung eine Gewissheit. Wenn vor den Fenstern der Straßenbahn mittags das Schloss in Sicht kam, habe ich gedacht, nein, nicht nur gedacht, sondern gewusst: Eines Tages wird das alles zu Ende sein ... Eines Tages werde ich hier nicht mehr fahren. Nie mehr wieder. Gott allein weiß, wie es geschehen wird und wann und warum. 

Es wird etwas kommen, das unaufhaltsam ist, und vielleicht ist es schon auf dem Wege, wir wissen es nur nicht. Dann wird diese Form des Lebens ganz und gar vergangen sein. Dann werde ich weit fort sein, irgendwo in der Welt. 

Und es kann sein, dass dann mein Herz danach brennen wird, einmal, ein einziges Mal noch, so durch die Straßen meiner Vaterstadt zu fahren.