Noch nicht einmal ein ganzes Jahr als Teil der Ampelkoalition im Bund mitregierend, haben Spitzenpolitiker der Grünen ihrer Parteibasis in den letzten Monaten schon einiges zugemutet. Noch vergangenen Sommer haben die Grünen im Bundestagswahlkampf etwa Plakate mit der Aussage „Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete“ aufgehängt.
In der Bundesregierung sind es vor allem die Grünen-Politiker Annalena Baerbock und Robert Habeck, die stark auf Waffenlieferungen in die Ukraine drängen. Auch Habecks Aussage, im Zweifel sei Versorgungssicherheit wichtiger als der Klimaschutz, kommt für Teile seiner Partei einem Tabubruch gleich. Mit der nun geführten Diskussion um einen zeitweisen Weiterbetrieb der drei letzten deutschen Kernkraftwerke könnte die Führungsriege der Grünen innerparteilich allerdings den Bogen überspannt haben.
Bereits in der ARD-Talkshow „Anne Will“ hatte die Grünen-Bundesvorsitzende Ricarda Lang am 17. Juli angedeutet, dass sie eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken offenbar nicht mehr kategorisch ausschließt.
Eine Woche später legte die Grünen-Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt nach. Ebenfalls bei „Anne Will“ erklärte sie: „Wenn es dazu kommt, dass wir eine wirkliche Notsituation haben, dass Krankenhäuser nicht mehr arbeiten können, wenn eine solche Notsituation eintritt, dann müssen wir darüber reden, was mit den Brennstäben ist.“ Ende Juli erklärte Katrin Habenschaden (Grüne), die Zweite Bürgermeisterin der bayerischen Landeshauptstadt: „Sollte der Stresstest des Bundeswirtschaftsministeriums ergeben, dass München ein Engpass bei der Stromversorgung droht, darf ein Streckbetrieb von Isar 2 kein Tabu sein.“
Die neuen Töne in Sachen Strom aus Kernkraftwerken stoßen innerhalb der Partei zum Teil auf heftigen Widerspruch. Besonders scharf distanzierte sich der frühere Umweltminister Jürgen Trittin. Zu den Überlegungen der Münchner Grünen, notfalls Isar 2 länger am Netz zu halten, sagte Trittin gegenüber dem „Spiegel“: „Was sie dazu motiviert hat, müssen Sie die fragen.“
Auch Bundesumweltministerin Steffi Lemke stellte klar, sie sehe bei den für Jahresende geplanten AKW-Abschaltungen ebenfalls „keinen Anlass für eine neue Bewertung der Situation“. In Niedersachsen sind die Grünen ebenfalls nicht bereit, den allerneuesten Kurswechsel ihrer Partei mitzumachen. Julia Willie Hamburg, Grünen-Spitzenkandidatin, sagte gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, Atomkraft sei hochgradig gefährlich.
Wie die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ berichtet, wollen Atomkraftgegner bei den Grünen sogar einen Sonderparteitag durchsetzen, falls Wirtschaftsminister Habeck tatsächlich einen sogenannten Streckbetrieb der verbleibenden Atomkraftwerke anstreben. Aus Sicht der Parteiführung ist die Kritik aus dem niedersächsischen Landesverband besonders brisant. In Niedersachsen stehen im Oktober nämlich Landtagswahlen an.
Präsentiert sich die Partei den Wählern in Niedersachsen in den kommenden Monaten gespalten und zerstritten, kann dies den bisherigen Aufwärtstrend der Grünen abrupt abreißen lassen.