Über Jahrzehnte der Nachkriegszeit galt es meist als schlechter Stil, wenn sich deutsche Politiker im Ausland zu Fragen des hiesigen Tagesgeschäfts äußerten oder auf Auslandsreisen sogar andere deutsche Politiker verbal angingen.
Ungeachtet dieser Gepflogenheit hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) während seines jüngsten Besuchs in der Ukraine scharfe Kritik an Aussagen der beiden Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) und Rainer Haseloff (CDU) geübt. Gegenüber der ARD sagte der Bundesminister: „Ich finde es wichtig, dass wir uns auch in Deutschland als Gesellschaft nicht von Putin spalten lassen, und deshalb muss jeder demokratische Politiker, auch die Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt und Sachsen, wissen, was sie sagen.“ Heil reagierte damit auf die Forderung des sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer, die Beziehungen zu Russland nicht abreißen zu lassen und auf Putin einzuwirken, um den Krieg in der Ukraine „einzufrieren“. Man brauche weiter russische Rohstoffe, so Kretschmer.
In einem „Zeit“-Interview beantwortete Kretschmer die Frage, wann „galoppierende Inflation und extrem steigende Energiepreise“ den sozialen Frieden in Deutschland gefährden. Schon im Mai hatte der Regierungschef des Freistaates gewarnt: Die harten Sanktionen gegen Russland „treffen uns zum großen Teil selbst“.
Zweifel am Kurs der Regierung
Zweifel am Sanktionskurs der Ampelkoalition meldet auch Sachsen-Anhalts Regierungschef Rainer Haseloff an. Bereits Anfang Juli plädierte er dafür, angesichts weiter steigender Energiekosten die Russland-Sanktionen regelmäßig auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.
Die wachsenden Zweifel in Mitteldeutschland haben mittlerweile nicht nur Hubertus Heil von der SPD, sondern auch den CDU-Chef Friedrich Merz auf den Plan gerufen. Im ZDF-Sommerinterview sagte Merz mit Blick auf die Sanktionskritik aus Sachsen: „Wir haben mit Michael Kretschmer einen Ministerpräsidenten in unseren Reihen, der das aus der sächsischen Perspektive anders sieht, aber auch das ist nicht die Meinung der Union.“ Merz betonte, es gebe kein Ost-West-Gefälle bei der Frage nach den Sanktionen. Kretschmer sei nicht der einzige Ministerpräsident im Osten.
Schon die Sanktionskritik, die aus der Staatskanzlei von Sachsen-Anhalt kommt, lässt an der Richtigkeit der Diagnose des CDU-Chefs zweifeln.
Kretschmer und Haseloff können vielmehr als prominente Stimmen einer um sich greifenden Frustration über die Energiepolitik gesehen werden. So hat mittlerweile Bundeswirtschaftsminister Habeck Post von den wirtschaftspolitischen Sprechern von fünf CDU-Landtagsfraktionen der östlichen Bundesländer erhalten. In ihrem Schreiben warnen die Absender den Grünen, das, was in den vergangenen 30 Jahren nach der friedlichen Revolution mühsam aufgebaut und stabilisiert wurde, werde nicht mehr zu retten sein, wenn die Bundesregierung an ihrer bisherigen „ideologisch geprägten Energiepolitik“ festhält.
Konkret forderten die CDU-Wirtschaftspolitiker aus den Landesparlamenten, die Kohlekraftwerke bis 2038 weiterlaufen lassen und die letzten verbliebenen Kernkraftwerke später vom Netz zu nehmen. Die Unionspolitiker befürchten, dass Unternehmen ins Ausland abwandern werden, wenn Energie nicht mehr zu beherrschbaren Preisen verfügbar ist.
30 Jahre Arbeit in Gefahr
Habeck hat mittlerweile auch Post von Kommunalpolitikern der Insel Rügen erhalten, die von dem Grünen die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2 verlangen. Wie der Sassnitzer Bürgermeister Frank Kracht mitgeteilt hat, gehe es dabei um dauerhafte Energiesicherheit. Wenn es technische Schwierigkeiten gebe, diese Energiesicherheit über Nord Stream 1 zu gewährleisten, müsse man neue Wege finden. Nord Stream 2 sei eine Möglichkeit, so der parteilose Bürgermeister von Sassnitz.
Streit um den Sinn der bisherigen Sanktionsmaßnahmen findet mittlerweile auch im Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) statt. An die Adresse des Verbandes und seines Präsidenten Hans Peter Wollseifer gerichtet hat Karl Krökel, der Kreishandwerksmeister aus Dessau-Roßlau, gefordert, allgemeinpolitische Äußerungen zum Ukraine-Konflikt zu unterlassen. In einer Mitteilung der Handwerksvertreter aus Sachsen-Anhalt heißt es: „Bereits Mitte Juni hatte die Kreishandwerkerschaft Anhalt–Dessau–Roßlau einen Offenen Obermeisterbrief veröffentlicht, in dem sich das lokale Handwerk deutlich gegen den Krieg als Mittel der Politik und gegen Waffenlieferungen positioniert.“ Auch sei in dem Brief deutlich gemacht worden, „dass die Wirtschaftssanktionen den russischen Angriffskrieg nicht beeinflussen und gleichzeitig aber die einheimische Wirtschaft und Bevölkerung massiv treffen“.