Bürgerkriege sind die grausamsten, weil in ihnen der Gegner als absoluter Feind bekämpft wird, mit dem ein Kompromiss unmöglich ist. Am besten war es anschließend immer, sich auf die Kraft des Vergessens und des Schweigens zu verlassen.
An diese praktische und bewährte Übereinkunft hielten sich die Spanier, als im Herbst 1975 Francisco Franco starb, der Sieger im Bürgerkrieg von 1936 bis 1939. Sie standen vor der schwierigen Aufgabe, möglichst einen unaufgeregten Übergang von dem autoritären System in einen parlamentarischen Rechtsstaat zu finden. Sie waren stolz darauf, wie bravourös sie unter der Leitung des Königs Juan Carlos mit Einschluss aller Parteien diese Herausforderung unter dem kräftigen Applaus der Europäer bewältigt hatten.
Diesen Konsens gefährdete 2007 das unter dem Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero vom Parlament, den „Cortes“, gebilligte, dort aber sehr umstrittene Gesetz zum historischen Gedächtnis. Es ist unlängst ergänzt worden mit dem Gesetz zur „memoria democrática“, zum demokratischen Gedächtnis. Ausdrücklich wird dort darauf hingewiesen, dass Vergessen für Demokraten unmöglich sei. Also müssen alle so weit vereinheitlicht werden, sich auf eine bestimmte Weise zu erinnern, wie das Gesetz es befiehlt.
Gesetz zum historischen Gedächtnis
Beide Gesetze verdammen den Staat, den der Generalissimo und Caudillo gegründet und in dem er fast vierzig Jahre geherrscht hatte, als Unrechtsstaat, beruhend auf Kriegsverbrechen, Folter, Verletzung der Menschenrechte und der internationalen humanitären Regeln, schreckliche Vergehen, die unverzeihlich sind und in dem kollektiven Gedächtnis aufbewahrt werden müssen. Eine staatliche Behörde, eine Art Wahrheitsministerium, soll dafür sorgen, dass in diesem Sinne die Erziehung zu demokratischem Bewusstsein nicht weiter vernachlässigt wird. Die Republik, die schon vor dem Bürgerkrieg gescheitert war, ist damit jeder Kritik entrückt, wird verklärt, und Republikaner, ob gefallen, diskriminiert oder in die Emigration gezwungen, werden von nun an als Märtyrer unentbehrlich für die demokratische Wertegemeinschaft.
Diese braucht offenbar Zwist und Hader, unnützes Erinnern, um mit Goethe zu reden, weil es nur Unfrieden stiftet. Nur was fruchtbar ist, hielt er für wahr und erachtete deshalb nur solche Besinnung auf Vergangenheit und Geschichte als ersprießlich, die dem Geist, der nach Brot verlangt, Nahrung bietet und ihn fördert. José Ortega y Gasset, ein spanischer Goetheaner, variierte auf vielfache Weise diese Ratschläge und mahnte oft seine Spanier, nicht das tätige Leben zu versäumen, weil ins Vergangene allzu sehr verstrickt, das als Abgetanes und Ausgelebtes gar nicht dabei hilft, die Gegenwart und deren Forderungen mit Glück und Geschick zu meistern.
Ortega y Gasset verteidigte energisch 1931 den Übergang von der Monarchie zur Republik. Er war Abgeordneter und riet oft genug, nicht parteilichen Leidenschaften nachzugeben und sich mit den Vergangenheiten zu beschäftigen, sondern an ein neues, vitales Spanien zu denken, an eine Nation, die Lebenskräfte weckt, aus der Resignation herausführt und die bereit ist, die vielen Willen zu einem gemeinsamen Wollen zu bündeln. Ihm kamen bald Zweifel an den Republikanern, die mehr an Abstraktionen als an die Wirklichkeit dachten und sich nicht scheuten, die freien Gedanken ihren Wünschen und Anordnungen angleichen zu wollen, weshalb er 1936 enttäuscht das republikanische Spanien verließ, aber 1949 zurückkehrte. Ohne ein Anhänger des Regimes zu sein, wurde er gleichsam als souveräne Macht anerkannt und als solche in seiner Entfaltung als Lehrer und Anreger nicht eingeschränkt. Ortega y Gasset repräsentierte den spanischen Geist und wurde überall in Europa als Autorität betrachtet. Soll dieser große Spanier auf einmal aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht werden, weil sein Verhalten nicht den heutigen Vorstellungen einiger bornierter Ideologen entspricht? Immerhin verließ er Spanien wegen dreister Republikaner, die dem freien Geist, der weht wie und wohin er will, misstrauten.
Gesetz zum demokratischen Gedächtnis
Dieses Misstrauen äußert sich auch in den Gesetzen, die sich anmaßen, die historische Wahrheit dogmatisch einzugrenzen und wie einen Glaubensartikel der Diskussion zu entziehen. Schon das Wort demokratisch ist auffallend. Die Linken nannten sich Republikaner, sie kämpften für die Republik und nicht für die Demokratie. Demokratie und demokratische Wertegemeinschaft gehören zur Ideologie des Westens, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg als anglo-amerikanische Lehre mit dem Anspruch auf universale Geltung durchgesetzt wurde. Spanische Republikaner traten hingegen bewusst in die Traditionen der Französischen Revolution, und zwar der radikalen Jakobiner. Diese sahen in der Republik eine Heilsanstalt und erklärten sich als wahre Republikaner, und deshalb als hohe Priester der Welterlösung durch die Republik, dazu berechtigt, alle, die noch nicht fest in der republikanischen Gesinnung stehen, zu erziehen und sich ihnen anzugleichen, bis eine völlige Übereinstimmung der Gemüter erreicht ist. Parteien und Wettbewerb schien ihnen ein Beweis dafür, dass unzulängliche Elemente weiterhin ihr Unwesen treiben und damit die Republik gefährdeten, die erst zum Ausdruck der heilsamen Einheit werden kann, wenn die eine, unteilbare Nation die Einheit aufgrund vollständiger Vereinheitlichung erreicht hat.
Republikaner, wie etwa Manuel Azaña, ab 1936 Staatspräsident, fürchteten, die Republik um ihre Substanz zu bringen, wenn etwa „Rechte“ an der Regierung beteiligt würden. Die Republik befindet sich im Kampf gegen rechts, gegen Reaktion und Faschismus, und darf deshalb nicht mit formaljuristischen Einwänden darauf verpflichtet werden, eine parlamentarische Mehrheit zu respektieren, die eben eine falsche Mehrheit ist. Über dem Recht und der Verfassung steht die republikanische Moral und Tugend. Die Sorge um deren Reinheit ist revolutionären Republikanern auferlegt. Die meisten Republikaner ahmten wie in einem historischen Kostümstück jakobinische Attitüden nach und bedienten sich eines verstaubten Pathos und einer verwelkten Phraseologie, die nichts mit der Gegenwart und Spanien zu tun hatten. Ihr rabiater Kirchenkampf oder ihr sehr ambivalentes Verhalten zu Gewalt und Mord gehören zu diesem revolutionären Maskenspiel. Insgesamt bildeten die Linken keinen einheitlichen Block; sie waren untereinander gar nicht eins, zumal besonnene Sozialisten es für notwendig hielten, sich mit Bürgern, Monarchisten oder rechten Republikanern zu verständigen, da Spanien, der Staat und das Gemeinwohl wichtiger seien als ideologische Wünschbarkeiten.
Republikanische Moral und Tugend
Vor allem Kommunisten, eine Minderheit, warnten im Interesse des Staates vor den revolutionären Redensarten. Sie folgten der Weisung Stalins, den Klassenkampf vorerst in den Hintergrund zu schieben, um eine nationale Sammlung mit der Volksfront zu ermöglichen. Sie hatten eine andere Vorstellung von der Republik, und wieder einer anderen hingen die Anarchisten oder die Katalanen an. Meist waren die Republikaner mehr mit sich selbst als mit Francisco Franco beschäftigt.
Unter den Rechten verhielt es sich nicht viel anders: Sie stritten untereinander, verschiedenen Richtungen verpflichtet, auch republikanischen, zusammengehalten allein von Franco, der keiner Partei angehörte, zu allen Parteien Distanz hielt, weil er sie allesamt für unfähig hielt, mit den Problemen des schon seit Jahrzehnten aus dem Gleichgewicht geratenen Spanien fertig zu werden. Es gab nicht, wie es immer heißt, zwei Spanien, ein rechtes und ein linkes, sondern viele Spanien mit Programmen und Hoffnungen, die sich kaum miteinander vereinbaren ließen. Die Überlegenheit Francos bestand darin, dass er sich über den Zerfall des Parteienstaates keine Illusionen machte und hoffte, mit Improvisationen die Grundlagen für ein neues Spanien zu schaffen, seine Diktatur als Übergang begreifend in andere Verhältnisse, von denen er keine feste Vorstellung hatte. Sein Ziel war auf jeden Fall die Entpolitisierung und Entideologisierung der Spanier. Damit hatte er Erfolg.
Versuch jakobinischer Vereinheitlichung
Bajonette taugen zu vielem, aber nicht dazu, auf ihnen zu sitzen. Das gab Ortega y Gasset zu bedenken. Dem staatsklugen Machiavellisten Franco musste man das nicht sagen. Während seiner Herrschaft schlug er immer wieder unerwartete Pfade ein und konnte viele Spanier für sich gewinnen und tatsächlich populär werden. Eine Opposition musste er nicht konsequent verfolgen. Es gab keine nennenswerte Widerstandsgruppen. In der Emigration warf jeder jedem vor, für den Untergang der Republik verantwortlich zu sein. Je länger Franco regierte, desto mehr machte sich Resignation breit. Alle warteten auf dessen Tod, auch in den Kreisen, auf die sich Franco stützte. Das größte Ärgernis für die Propagandisten eines nationalen Geschichtsbildes um die Republikaner im Mittelpunkt besteht darin, dass die Geschichte über deren Ideen hinwegschritt und sie als Vertreter eines sterbenden Spanien bedeutungslos für die Erneuerung Spaniens blieben, wie sie sich unter Franco vollzog. Nach dem Tode Francos verhielten sich auch die ehedem Besiegten oder deren Erben nüchtern und erlagen nicht der Versuchung, ihr Scheitern zu beschönigen und sich mit vergeblichem Streit nachträglich gar zum Sieger im Bürgerkrieg aufzuschwingen. Das hätte sie lächerlich gemacht und als ewig Gestrige um jedes Ansehen gebracht. Auch sie zogen aus der Katastrophe die Lehre, die schrecklichen Fehler der dreißiger und früherer Jahre nicht zu wiederholen.
Der König war von Franco erzogen worden, er suchte junge Leute aus, die sich im System bewährt hatten und deshalb wussten, wie und mit wem Veränderungen eingeleitet und erfolgreich fortgeführt werden konnten. Ihnen schlossen sich pragmatisch alle Politiker an, um von dem wirklichen Spanien ausgehend und nicht von einem erträumten, dem Staat und der Gesellschaft einen Rahmen zu geben, der elastisch genug war, dem Leben in seiner Vielfalt genug Spielraum zu seiner freien Entfaltung zu gewähren. Sie waren keine Opportunisten und unmoralische Karrieristen. Im Gegenteil, sie stifteten unter Spaniern, was diese schon lange vor der Republik und dem Bürgerkrieg vermissten, Einigkeit, und ermöglichten es jedem, sich mit Spanien als dem gemeinsamen Vaterland zu versöhnen.
Die geschichtspolitischen Gesetze sind jetzt ein Symptom dafür, dass sich diese Einigkeit aufgelöst hat. Die Idealisierung einer Republik, die nicht einem Attentat erlag, sondern an ihren eigenen Widersprüchen zerbrach, dient nicht der historischen Wahrheit, für die ohnehin keine Partei und keine Regierung zuständig ist. Es handelt sich um einen Versuch jakobinischer Vereinheitlichung, der Einigkeit verdächtig ist, weil sie Vielfalt voraussetzt. Der Verdruss sehr vieler Spanier wegen der Spiele der Parteipolitiker empfängt durch solche Willkürakte neue Nahrung. Ein von derartiger Parteilichkeit geprägtes „demokratisches“ Erinnern schwächt die innere Verfassung und kräftigt sie nicht.
Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehören „Zur Tyrannei der Werte“ (2010), „Wagner und Verdi. Zwei Europäer im 19. Jahrhundert“ (2012) sowie „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (2014, jeweils bei Klett-Cotta).
www.eberhard-straub.de