Im Ostseebad Heringsdorf gibt es zahlreiche historische Gebäude. Die Villa Staudt, in bester Lage im Zentrum der Heringsdorfer Promenade gelegen, gehört zweifellos dazu. Zudem ist das Gebäude, in dessen Vorgarten sich seit 2003 eine Büste Kaiser Wilhelms I. befindet, ein eindrucksvolles Denkmal der Bäderarchitektur.
Die Gemeinde Heringsdorf hatte sich gegen eine Aufstellung dieser Büste auf Gemeindeland ausgesprochen. Im „Kaiserbad“ liebt man seinen Kaiser und möchte diesen nicht durch einen anderen Kaiser ersetzt sehen. Es wäre sicherlich auch nicht im Sinne des ersten deutschen Kaisers gewesen, dass sein Abbild lediglich in Ermangelung einer Büste seines Enkels aufgestellt wird.
Gast in Heringsdorf seit 1866
Es war Wilhelm II., der von 1907 bis 1912 jährlich mit seiner Staatsjacht Hohenzollern das Flottenmanöver in der Pommerschen Bucht vor Swinemünde inspizierte und anschließend von der Witwe des Berliner Großkaufmanns Wilhelm Staudt, Elisabeth Staudt, in ihrer Heringsdorfer Villa Miramar zum Tee empfangen wurde. Einen Feriensitz hatten die Hohenzollern im mondänen Ostseebad Heringsdorf zu ihrem Bedauern nicht. Der spätere Kaiser Wilhelm II. logierte im Jahre 1866 bereits als Siebenjähriger mit seinen Eltern, der Kronprinzessin Victoria von Preußen und dem preußische Kronprinzen Friedrich sowie seinem Bruder Heinrich mehrere Wochen im Weißen Schloss auf dem Heringsdorfer Kulm.
Um den Besuch des Monarchen bei der Konsulin ranken sich wilde Gerüchte. Die Heringsdorfer erklärten sie kurzerhand zur Mätresse des Kaisers. Auch bei den jährlich stattfindenden Kaisertagen ist das Paar die Hauptattraktion. Als sicher gilt, dass Elisabeth Staudt bei der Hochzeit ihrer ausnehmend hübschen Tochter Auguste-Viktoria mit dem Rittmeister Wilhelm von Kummer den Kaiser, der Taufpate des Bräutigams war, kennengelernt hatte und seitdem ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm pflegte.
Den relativ kurzen Weg von Swinemünde nach Heringsdorf legte der Kaiser, in dessen Garage mehr als zehn Automobile verschiedener Marken standen, darunter auch Elektroautos, mit dem Auto zurück. Im Mai 1907 war der Kaiser wiederum auf dem Weg nach Heringsdorf. Am Ortseingang, unterhalb des Präsidentenberges erwarteten ihn zahlreiche Einwohner Heringsdorfs.
Die Kinder der einklassigen Schule hatten schulfrei bekommen und sicherten sich wegen der besseren Sicht erhöhte Plätze. Sie alle verehrten ihren Kaiser und hofften, dass ihr Heimatort und sie selbst am kaiserlichen Glanz partizipieren würden. Als sich die Autokolonne des Kaisers näherte, brach Jubel aus. Unter Hurra- und Hochrufen schwenken die Männer ihre Mützen. Huldvoll lächelnd grüßte der Kaiser zurück.
Dann passiert etwas Unerwartetes: Der Motor eines Automobils stottert und hört schließlich ganz auf zu laufen. Das Fahrzeug bleibt stehen und die Kolonne stockt. Nach einigem Suchen kommt der Chauffeur zu dem Schluss: Das Gasolin (Benzin) ist alle. Die Umstehenden wollen ihrem Kaiser helfen, wissen aber nicht wie. Wegen des zu erwartenden Spotts darf das Auto nicht zur Promenade geschoben werden und eine Tankstelle gibt es im Ort noch nicht.
Der Glasermeister Hähle aus der Lindenstraße reagiert am schnellsten. Er bietet einen benzingefüllten Kanister an, der in seiner Werkstatt steht. Bis zur Lindenstraße ist es nicht weit, und in wenigen Minuten ist er zurück. Das Gasolin wird eingefüllt, die Kurbel gedreht und der Motor springt wieder an. Nachdem alle Formalitäten geregelt sind, setzt sich die Kolonne wieder in Bewegung.
Anfang einer Erfolgsgeschichte
Einige Tage später schickt Glasermeister Hähle die Rechnung, der er einen Brief beifügt, nach Berlin. In dem Brief bittet er darum, sich kaiserlich-königlicher Hoflieferant von Gasolin nennen zu dürfen. Gleichzeitig verspricht er, dass künftig in Heringsdorf Gasolin immer in ausreichender Menge zur Verfügung stehen wird. Dem Wunsch Hähles wurde in der Hauptstadt entsprochen.
Mit der Tankstellenkonzession nahm eine unternehmerische Erfolgsgeschichte ihren Anfang. Der Pferdestall und die Überdachungen für die Droschken in der Lindenstraße mussten Garagen weichen. Hier konnten Autos nicht nur abgestellt, sondern auch repariert werden. Für die beiden kleinen Söhne des Glasers war die Hinwendung ihres Vaters zum Automobil prägend. Jeder von ihnen eröffnete später als Kfz-Meister eine Autowerkstatt in Swinemünde und führte diese erfolgreich bis 1945.