16.04.2024

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Folge 31-22 vom 05. August 2022 / Wochenendausflug / Willenlos in Willingen / 1,2 Millionen Gäste pro Jahr können nicht irren – Der Ettelsberg im Sauerland ist ein ganzjähriger Besuchermagnet fürs Partyvolk

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-22 vom 05. August 2022

Wochenendausflug
Willenlos in Willingen
1,2 Millionen Gäste pro Jahr können nicht irren – Der Ettelsberg im Sauerland ist ein ganzjähriger Besuchermagnet fürs Partyvolk
Bettina Müller

Es ist Sommer. Wir befinden uns in einer „Musikkneipe“ mit Biergarten im sauerländischen Skiort Willingen. Schlagersängerin Andrea Berg trällert aus den Lautsprechern. Menschen grölen mit, Bier und Cocktails in komischen Farben fließen in Strömen. Man könnte auch „Hexenkessel!“ dazu sagen. Da ist der einsame Junggeselle auf Brautschau, aber auch das Tanzschul-gestählte Ehepaar, das zeigt, was es auf dem Parkett so alles kann, vor allem den Foxtrott. Und natürlich der obligatorische Junggesellenabschied. 

Noch sind die Jungs verhalten, doch das kann sich bald ändern. Und umsonst wird sich auch der bullige Türsteher bestimmt nicht vor derselben aufgebaut haben, mit Tumulten scheint man also zu rechnen. „Bis halb zwei. Mindestens“, strahlt uns die „Freundin der Nacht“, so die Eigenauskunft auf dem Dienst-T-Shirt der freundlichen Servicekraft, an. 

Gefragt hatten wir nach der Öffnungszeit. „Gefühle haben Schweigepflicht“, fährt Andrea Berg brutal dazwischen. Nicht für den Besucher. Denn seitdem wir hier angereist sind, stellen sich uns ständig Fragen. Und in diesem Augenblick in dieser proppenvollen Kneipe vor allem die: Corona, was ist das? Verdrängt, vergessen. Alles, was hier zählt, ist Spaß. Aber wie hieß es schon in einem Schlager aus lange vergangenen Zeiten? Genau: „Ein bisschen Spaß muss sein.“

Es ist Freitagabend, 19 Uhr. Bei dem Paar nebenan kriselt es akut. Es stellt sich heraus, dass sie gegen ihren Willen an diesem Ort ist. Ihr Begleiter, offenbar selbst Skifahrer, aber eher in grauer Vorzeit, hat vehement auf der Anreise zum sommerlichen Wintersportort bestanden. Und so fuhren sie in Richtung Sauerland, der Mann am Steuer mit großer Vorfreude, seine Begleiterin daneben mit großen Vorbehalten, bis sie auf dem Beifahrersitz wahrscheinlich immer kleiner wurde und fast zu verschwinden drohte. Es wäre ihr recht gewesen. Denn ihre entscheidende Frage lautete beständig: Was soll ich da? Sie fahre kein Ski und sei auch keine Partymaus. Für diese beiden Zeitvertreibe ist der Ort nämlich berühmt-berüchtigt. Der Mann strahlt über beide Ohren, seine Begleiterin lächelt gequält zurück. 

Zugegeben: Es ist alles da, was der gemeine Urlauber so benötigt. Aber die verdächtig hohe Dichte von Restaurants und Kneipen lässt schlussfolgern, dass man hier anscheinend vor allem eines braucht: eine gute Kondition, und das nicht nur für das Skifahren. 

Alpendudler im Rothaargebirge

Eine große Gruppe Menschen strömt in das Willinger Brauhaus. Das ist dort, wo der verzweifelte Bierfreund außerhalb der Öffnungszeiten, also sagen wir um drei Uhr nachts, die Möglichkeit hat, die Flaschen mit dem begehrten Gerstensaft am Bierautomaten zu ziehen, was eigentlich sehr praktisch ist, aber doch tief blicken lässt. Alkohol spielt hier offenbar eine sehr große Rolle. Eine Männergruppe lärmt entfesselt vor einer Kneipe herum, vor der sich bayerische Fähnchen keck im Wind wiegen. In der mehr als rustikalen „Dorfalm“ ist es mittlerweile brechend voll geworden, während ein anderes, sehr gediegenes Restaurant mit weißen Tischdecken müde vor sich hindümpelt und 

die Kellner gelangweilt im Kollektiv 

gähnen. 

Mit der „Dorfalm“ kann der Laden nun mal nicht mithalten, dort, wo das Ambiente eine einzige Verheißung für den Österreich- oder Bayern-affinen Touristen ist. „Alpendudler“ verspricht ein Werbeplakat verheißungsvoll. Bestimmt hat das etwas mit Alkohol zu tun. Das Personal ist offenbar persönlich von Markus Söder, dem bayerischen Ministerpräsidenten, eingekleidet worden, blau-weiß-kariert dominiert das rustikale Ambiente, was aber völlig „over the top“ ist.

„Leute, man kann es auch wirklich übertreiben“, denkt sich da so mancher. Dafür sind die Holländer, die soeben in der „Dorfalm“ am Nebentisch eingefallen sind, hellauf begeistert.

Es wird Nacht in Willingen. Und die ist hier wohl sehr lang. Aber auch eine Dauerparty ist irgendwann einmal vorbei. Der nächste Tag bricht an und der Albtraum des vergangenen Abends ist Geschichte. Jetzt fahren die nächtlichen Partygänger mit der Kabinenseilbahn den Ettelsberg hinauf, der mit 830 Metern der höchste Berg im Rothaargebirge ist. Etliche Mountainbiker und Wanderer haben dasselbe vor. Den Mountainbikern wird oben sogar ein eigener Montainbike-Park geboten, wo sie sich austoben können.

Langsam kriecht die Seilbahn den Berg hinauf. Die Aussicht ist traumhaft schön und wird, je höher man schwebt, noch spektakulärer. Die Stimmung bei den Naturfreunden in der Kabine hellt sich auf, auch wenn auf der Bergspitze die nächste Party-Attraktion lockt, so eine Art überdachte Großraum-„Alm“, man weiß es nicht so genau. Die wird daher auch keines Blickes gewürdigt, stattdessen werden die Wanderschuhe angeschnallt und sich ein schöner Tag in der sehr lohnenswerten Umgebung gemacht, den man abends durchaus gemütlich in Willingen ausklingen lassen kann.

Après-Ski in Dauerschleife

Die Spaßtouristen scheinen nämlich nur am Wochenende die Herrschaft zu übernehmen. Unter der Woche ist es eher ruhig, ja sogar fast beschaulich, zumeist genießen Wandersleute älteren Semesters ihren Aufenthalt. Bis dann am Freitag das Tohuwabohu los- und das Party-Volk 

einbricht. 

Irgendwie schizophren, aber auch verständlich: Mit irgendetwas muss und musste man hier ja sein Geld verdienen, in dieser eher abgeschiedenen Gegend, und zwar immer dann, wenn der Schnee geschmolzen war. Doch ein bisschen Originalität könnte auch nicht schaden, 

Après-Ski in Dauerschleife ist doch eine sehr einseitige Sache, wenn es nur auf das bloße Saufen reduziert wird. 

Aber die Menschen, die am Wochenende auf der Suche nach dem großen Vergnügen die Hauptstraße entlanglärmen, stört dieses Dilemma nicht. Im Winter werden auch sie wiederkommen und Willingen wie immer auch zum absoluten Zentrum des Wintersports machen und zum Beispiel die Skispringer bejubeln, welche die größte Sprungschanze der Welt hinuntersegeln. 

„Eigentlich ist hier ja für jeden Geschmack etwas dabei“, sinniert eine Besucherin am späten Abend vor der Abreise. 1,2 Millionen Menschen, die das gesamte Jahr über in Willingen übernachten, können nicht irren.