29.03.2024

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Folge 32-22 vom 12. August 2022 / Wie der Nürnberger Kodex entstand / Im Nürnberger Ärzteprozess wurden vor 75 Jahren die Urteile gesprochen. Die Begründung der Urteile mündete in eine eindeutige Mahnung auch für die Gegenwart

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-22 vom 12. August 2022

Wie der Nürnberger Kodex entstand
Im Nürnberger Ärzteprozess wurden vor 75 Jahren die Urteile gesprochen. Die Begründung der Urteile mündete in eine eindeutige Mahnung auch für die Gegenwart
Wolfgang Kaufmann

Während der Zeit des Nationalsozialismus begingen deutsche Mediziner Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nach Schätzungen der Ärztekammern in Deutschland belief sich die Zahl der Täter auf mindestens 350. Dennoch verzichteten die Siegermächte zunächst auf eine juristische Ahndung. Das resultierte vor allem aus deren Interesse an den Ergebnissen der Menschenversuche von militärischer Relevanz. 

Hier bietet sich ein Vergleich mit dem Umgang mit den Angehörigen der japanischen Einheit 731 unter dem Kommando des Mikrobiologen Shirō Ishii an, die ab 1935 in China ebenfalls Menschenversuche von militärischer Relevanz durchgeführt hatten. Obwohl die Truppe des „japanischen Mengele“ wohl bis zu 300.000 Menschen ermordete, kam es zu keiner strafrechtlichen Verfolgung durch die Westalliierten, da deren Erkenntnisse unter anderem der US-Biowaffenforschung nützten.

Alliierte profitierten von den Untaten

Im Falle der deutschen Mediziner fiel dann aber doch die Entscheidung zur Durchführung eines entsprechenden Ärzteprozesses auf der Basis des Kontrollratsgesetzes Nummer 10. In dem Verfahren sollten sich insgesamt 20 Mediziner, ein Jurist und zwei Verwaltungsfachleute für ihre Mitwirkung an der Vorbereitung und Durchführung von oftmals tödlich verlaufenen Menschenversuchen sowie der Ermordung von mehr als 200.000 behinderten oder kranken Menschen im Rahmen des NS-Euthanasieprogramms verantworten. Die Anklagepunkte lauteten in allen Fällen auf „Kriegsverbrechen“, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen“.

Der Nürnberger Ärzteprozess begann am 9. Dezember 1946 und erstreckte sich über insgesamt 139 Verhandlungstage. Den Vorsitz führte Walter Beals, Oberster Richter am Supreme Court des US-Bundesstaates Washington. Als Beisitzer fungierten Harold Sebring, Richter am Obersten Gerichtshof von Florida, und Johnson Crawford, vormals Richter am District Court von Oklahoma. Während des Verfahrens wurden 32 Zeugen der Anklage und 53 Zeugen der Verteidigung gehört sowie 1471 Eidesstattliche Erklärungen und sonstige Dokumente vorgelegt.

23 Angeklagte

Auf der Anklagebank saßen damals: der Wirtschaftswissenschaftler, Oberdienstleiter in der Kanzlei des Führers und maßgebliche Organisator der NS-Krankenmorde Viktor Brack; der Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen und „chirurgische Begleitarzt“ von Adolf Hitler Karl Brandt, der sowohl für die Euthanasie-Aktion als auch für diverse Menschenversuche mitverantwortlich gewesen war; der Persönliche Referent des Reichsführers SS und Doktor der Rechte Rudolf Brandt wegen seiner führenden Rolle bei der Planung der Experimente mit KZ-Insassen; der Chefarzt der Heilanstalt Hohenlychen sowie Oberste Kliniker beim Reichsarzt SS und Polizei Karl Gebhardt, der auch eigenhändig Menschen zu Tode gebracht hatte; der Lagerarzt von Buchenwald sowie stellvertretende Leiter der Abteilung für Fleckfieber- und Virusforschung des Hygiene-Instituts der Waffen-SS Waldemar Hoven; der Leiter dieser Einrichtung Joachim Mrugowsky; der Reichsgeschäftsführer der SS-Wissenschaftsorganisation „Das Ahnenerbe“ und stellvertretende Leiter des Beirates des Reichsforschungsrates Wolfram Sievers; der Assistenzarzt von Gebhardt und Verantwortliche für die Experimente im KZ Ravensbrück Fritz Fischer; der Chef des Sanitätsamts der Waffen-SS Karl Genzken; der Chef des Wehrmachtsanitätswesens Siegfried Handloser; der stellvertretende Präsident des Robert-Koch-Institutes und Beratende Hygieniker beim Chef des Sanitätswesens der Luftwaffe Gerhard Rose; der Leiter und Inspekteur des Sanitätswesens der Luftwaffe Oskar Schröder; der Referent für Luftfahrtmedizin beim Sanitätsinspekteur der Luftwaffe Hermann Becker-Freyseng; die Lagerärztin im KZ Ravensbrück Herta Oberheuser; der Stabsarzt der Luftwaffe Wilhelm Beigl­böck; der Leitende Arzt im SS-Rasse- und Siedlungshauptamt Helmut Poppendick; der stellvertretende Reichsgesundheitsführer Kurt Blome; der Dermatologe Adolf Pokorny; der Amtschef der Dienststelle Medizinische Wissenschaft und Forschung des Generalkommissars für das Sanitäts- und Gesundheitswesen Paul Rostock; der Unterarzt im Stab des Forschungsinstituts für Luftfahrtmedizin Konrad Schäfer; der Direktor des Instituts für Flugmedizin der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt Siegfried Ruff; der Abteilungsleiter an dem Institut Hans-Wolfgang Romberg sowie der Chef des Instituts für Luftfahrtmedizin Georg August Weltz.

Während es im Falle von Brack und Karl Brandt hauptsächlich um deren Verantwortung für die Euthanasie-Aktion ging, wurden den anderen Angeklagten die Experimente an Menschen zur Last gelegt. Darunter fielen insbesondere die grausamen Unterdruck- und Unterkühlungsversuche im KZ Dachau zur Simulation der körperlichen Belastungen bei Kampfpiloten nach einem Flugzeugabschuss in großer Höhe oder über dem Meer, bei denen mindestens 160 Häftlinge starben, Testserien mit Fleckfieber-Impfstoffen, die in 97 Fällen letal verliefen, und die absichtliche Herbeiführung von Wundinfektionen oder Vergiftungen mit einer unbekannten Zahl von Opfern. Dazu kam die gezielte Ermordung von 86 jüdischen Insassen des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau zum Zwecke der Schaffung einer Skelettsammlung für die Anatomie der Reichsuniversität Straßburg, die in den zukünftigen „judenfreien“ Zeiten als Anschauungsmaterial dienen sollte.

Mit der Unmenschlichkeit dieser Experimente sowie auch der Tötung von Kranken, Behinderten und KZ-Häftlingen konfrontiert, entgegnete Karl Brandt: „Ich fühle mich dadurch nicht belastet. Ich habe die Vorstellung und Überzeugung, dass ich das, was ich in diesem Zusammenhang getan habe, vor mir selbst verantworten kann.“ Zur Begründung seiner Haltung gab der Gruppenführer der Allgemeinen SS und Generalmajor der Waffen-SS an: „In dem Augenblick, in dem die Person des Einzelmenschen aufgeht in dem Begriff des Kollektiven, … wird dieser einzelne Mensch völlig benutzt im Interesse dieser Gemeinschaft … Im Grunde bedeutet das Einzelwesen nichts mehr.“

Sieben Todesurteile

Die Urteile gegen die 23 Angeklagten fielen am 20. August 1947. Bei Brack, Gebhardt, Hoven, Mrugowsky, Sievers sowie Karl und Rudolf Brandt lautete der Richterspruch „Tod durch den Strang“. Fischer, Genzken, Handloser, Rose und Schröder sollten lebenslang in Haft. Becker-Freyseng, Herta Oberheuser, Beigl­böck und Poppendick wurden zu Freiheitsstrafen zwischen zehn und 20 Jahren verurteilt. Hingegen erkannte das Gericht im Falle von Blome, Pokorny, Rostock, Schäfer, Ruff, Weltz und Romberg auf Freispruch mangels Beweisen.

Die Vollstreckung der sieben Todesurteile erfolgte am 2. Juni 1948 im Kriegsverbrechergefängnis Nummer 1 in Landsberg am Lech. Dahingegen wandelte der US-Hochkommissar in Deutschland, John Jay McCloy, die lebenslangen Strafen am 31. Januar 1951 in Zeitstrafen um und reduzierte auch die Haftdauer der übrigen Verurteilten. Letztlich saß keiner der Delinquenten länger als bis Juni 1955 ein.

Eine deutlich nachhaltigere Wirkung als die Urteile selbst entfaltete deren Begründung, denn darin verpackten die Richter einige sehr klare juristische Formulierungen, die heute unter dem Namen „Nürnberger Codex“ bekannt sind und nach wie vor Gültigkeit besitzen, nicht zuletzt, weil sie in die 1964 vom Weltärztebund (WMA) verabschiedete und seither immer wieder aktualisierte Deklaration von Helsinki über „Ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen“ einflossen. 

Die größte Bedeutung hat der Punkt 1 von 1947: „Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. Das heißt, dass die betreffende Person im juristischen Sinne fähig sein muss, ihre Einwilligung zu geben; dass sie in der Lage sein muss, unbeeinflusst durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen; dass sie das betreffende Gebiet in seinen Einzelheiten hinreichend kennen und verstehen muss, um eine verständige und informierte Entscheidung treffen zu können. Diese letzte Bedingung macht es notwendig, dass der Versuchsperson vor der Einholung ihrer Zustimmung das Wesen, die Länge und der Zweck des Versuches klargemacht werden; sowie die Methode und die Mittel, welche angewendet werden sollen, alle Unannehmlichkeiten und Gefahren, welche mit Fug zu erwarten sind, und die Folgen für ihre Gesundheit oder ihre Person, welche sich aus der Teilnahme ergeben mögen. Die Pflicht und Verantwortlichkeit, den Wert der Zustimmung festzustellen, obliegt jedem, der den Versuch anordnet, leitet oder ihn durchführt. Dies ist eine persönliche Pflicht und Verantwortlichkeit, welche nicht straflos an andere weitergegeben werden kann.“

Deklaration von Helsinki

Flankiert wird diese allgemein anerkannte Bestimmung des Nürnberger Kodex durch die Genfer Deklaration des Weltärztebundes vom September 1948, die auch der Präambel der Muster-Berufsordnung für alle in Deutschland tätigen Ärzte vorangestellt ist. Darin heißt es unter anderem: „Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.“

An diesen ethisch-moralischen Grundsätzen wird heute jedes medizinische Handeln gemessen, und zwar auch und gerade in gesellschaftlichen Krisensituationen sowie anlässlich der Entwicklung neuer Heilmethoden, Medikamente und Impfstoffe. Somit kann sich nun niemand mehr hinter Schutzbehauptungen verschanzen, wie sie der KZ-Arzt Fritz Fischer, der gleich allen anderen Angeklagten im Nürnberger Ärzteprozess auf „nicht schuldig“ plädiert hatte, 1947 zu seiner Verteidigung vorbrachte: „Der Glaube und das Vertrauen an das legale Recht der Obrigkeit und des Staates und des Führers, so schien mir damals, gab die juristische Deckung und Rechtfertigung ab und enthob mich, wie mir auch betont ausgedrückt wurde, der individuellen Verantwortung.“ Denn sich dieser Verantwortung zu entziehen, war schon vor dem Schuldspruch von Nürnberg sowie den sieben Exekutionen von Landsberg unmöglich, und ist es jetzt erst recht.