30.04.2024

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Folge 36-22 vom 09. September 2022 / Warschau spielt mit dem Feuer / Mehr als ein Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende beziffert Polen seine Entschädigungsforderungen an Deutschland. Aussicht auf Erfolg haben diese nicht. Dafür haben sie das Potential, den inneren Frieden Europas nachhaltig zu stören

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-22 vom 09. September 2022

Warschau spielt mit dem Feuer
Mehr als ein Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende beziffert Polen seine Entschädigungsforderungen an Deutschland. Aussicht auf Erfolg haben diese nicht. Dafür haben sie das Potential, den inneren Frieden Europas nachhaltig zu stören
René Nehring

Die polnische Regierung gibt keinen Frieden. Nachdem in den vergangenen Jahren wiederholt Spitzenpolitiker der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) eher pauschal Entschädigungszahlungen von Deutschland wegen der durch den Zweiten Weltkrieg erlittenen Verluste gefordert hatten, stellten am Donnerstag vergangener Woche, dem symbolträchtigen 1. September, Premierminister Mateusz Morawiecki und der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński ein Gutachten vor, dass die Ansprüche Polens mit 6 Billionen, 220 Milliarden und 609 Millionen Zloty beziffert, was nach derzeitigem Kurs etwa 1,3 Billionen Euro entspricht. 

Zur Begründung verwiesen die beiden nicht nur auf die durch den deutschen Angriffskrieg erlittenen menschlichen und materiellen Verluste ihres Landes, sondern auch auf die dadurch entstandenen und bis heute nachwirkenden Beeinträchtigungen. Ohne die Auswirkungen des Krieges, so die Warschauer Argumentation, stünde der polnische Staat heute in seiner zivilisatorischen Entwicklung auf einem völlig anderen Platz. 

Juristisch ist die Sache erledigt

Die Antwort der Bundesregierung kam prompt. Deutschland sehe, so ein Sprecher des Auswärtigen Amtes, keine Grundlage für die polnischen Forderungen: „Die Position der Bundesregierung ist unverändert. Die Reparationsfrage ist abgeschlossen.“ Polen habe schon 1953 auf Reparationen verzichtet und diesen Verzicht mehrfach bestätigt. „Dies ist eine wesentliche Grundlage für die heutige Ordnung Europas“, so der Sprecher weiter. 

Damit könnte die Sache ihr Bewenden haben. Doch angesichts der nicht ruhenden polnischen Forderungen und mit Blick auf den mit dem Gutachten verbundenen Aufwand ist davon auszugehen, dass PiS-Politiker die Reparationsfrage keineswegs ruhen lassen werden. Deshalb ist es angebracht, das Thema noch einmal umfassend zu betrachten, wozu neben Rechtsfragen auch historische Aspekte gehören und nicht zuletzt die Frage, welche politischen Folgen das Warschauer Insistieren auf Entschädigungen haben könnte. 

Juristisch ist der Fall klar. Im Potsdamer Protokoll der alliierten Siegermächte von 1945, das bislang von keiner Warschauer Regierung in Zweifel gezogen wurde, weil Polen darin den historischen deutschen Osten zugesprochen bekam, heißt es unter Punkt III 2., dass sich die UdSSR dazu verpflichtet, Reparationsforderungen Polens aus ihrem eigenen Anteil an Reparationen zu begleichen. Insofern müsste Polen etwaige Ansprüche nicht an Deutschland, sondern an die Russländische Föderation als faktische Rechtsnachfolgerin der UdSSR richten. Zumal Polen 1939 nicht nur von Deutschland, sondern auch von der Sowjetunion angegriffen wurde und diese – etwa in Katyn – ebenfalls schwerste Kriegsverbrechen begangen hat. 

Zudem erklärte 1953 die damalige polnische Regierung auf der Grundlage des Görlitzer Abkommens von 1950, in dem die DDR die Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze anerkannte, dass Deutschland „seinen Verpflichtungen zur Zahlung von Reparationen bereits in bedeutendem Maße nachgekommen“ sei und sie deswegen auf weitere Zahlungen verzichte. Heute argumentieren die Verfechter der aktuellen polnischen Forderungen, dass ihr Land damals nicht souverän gewesen sei und der Verzicht von 1953 deshalb keine Gültigkeit besitze. In Bezug auf die Festlegung der Oder-Neiße-Grenze stört es PiS und Co. freilich nicht, dass diese beiderseits durch unsouveräne Regierungen erfolgte. 

Neben der Erklärung von 1953 verwiesen alle Bundesregierungen der letzten drei Jahrzehnte auch darauf, dass das vereinte Deutschland und das demokratische Polen in ihrem Grenzvertrag von 1990 und im Deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 abschließend alle noch offenen Fragen bezüglich des Zweiten Weltkriegs geregelt haben – und Polen damals keine Reparationsforderungen erhoben hat. 

Und als 2004 der Sejm die eigene Regierung aufforderte, mit Deutschland Verhandlungen über Entschädigungen aufzunehmen, erklärte mit dem damaligen Warschauer Premierminister Marek Belka ein demokratisch legitimierter Warschauer Kabinettschef, dass seine Regierung der Meinung sei, „dass die Angelegenheit der gegenseitigen Ansprüche zwischen Polen und Deutschland ein für alle Mal abgeschlossen ist“. Der damalige Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski äußerte sich ähnlich. 

Historische Sachverhalte

Letztendlich ist der polnischen Regierung durchaus bewusst, dass ihren Forderungen die juristische Grundlage fehlt, weshalb sie denn auch überwiegend historische und moralische Motive anführt. Doch auch auf diesem Feld gibt es Punkte, die die Argumentation Warschaus widerlegen. 

Da ist vor allem die Behauptung, Polen sei für seine immensen Kriegsverluste – die unbestreitbar sind – nie entschädigt worden. Tatsächlich bekam Polen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den historischen deutschen Osten zugesprochen. Zwar verlor das Land 1945 zugleich die Ostgebiete seiner Zweiten Republik, doch handelt es sich bei diesen östlichen Grenzlanden (Polnisch: Kresy) um Territorien, die Polen zum Zeitpunkt seiner staatlichen Wiedergründung 1918 gar nicht besessen, sondern erst im Polnisch-

Sowjetischen Krieg (1919–1921) erobert hatte. 

Unbestreitbar ist auch, dass die neuen polnischen Westgebiete – der historische Osten Deutschlands – ungleich höher entwickelt waren als jene Territorien, die Polen mit seinen Ostgebieten verlor. Weshalb denn auch keine einzige polnische Regierung seit 1945 die „Westverschiebung Polens“ infrage stellte. Es ist somit legitim, den durch den Zweiten Weltkrieg entstandenen polnischen Verlusten jene deutschen Verluste im Osten gegenüberzustellen, die Polen 1945 erhielt. 

Da ist vor allem das Land selbst zu nennen. Von den 114.267 Quadratkilometern, die Deutschland infolge der alliierten Entscheidung 1945 im Osten verlor, bekam Polen fast 100.000 Quadratkilometer. Veranschlagt man für jeden Quadratmeter nur zehn Euro (was angesichts der horrenden Bodenpreise in Metropolen wie Danzig, Breslau und Stettin weit untertrieben ist), so macht dies allein bereits einen Wert von fast einer Billion Euro. 

Einen großen Wert stellen auch die oberschlesischen Steinkohlevorkommen dar, die Polen seit 1945 nutzen konnte. Allein im Jahr 2021 hat Polen Kohle im Wert von 40 Milliarden Euro abgebaut. Rechnet man dies auf 75 Jahre hoch, ergibt dies einen weiteren Betrag in Billionenhöhe zugunsten Polens. Auch wenn dieser Vergleich hinkt, da sowohl die Preise für Kohle als auch die Fördermengen im Laufe der Zeit Schwankungen unterlagen, zeigt diese Überschlagsrechnung doch die Dimensionen der deutschen Verluste, von denen Polen seit 1945 Jahr für Jahr profitiert. 

Das Magazin „Der Spiegel“ stellte 1947 deutsche Verluste und polnische Zugewinne gegenüber und erwähnte dabei unter anderem 121 Textilfabriken, 21 Bergwerke, 89 Chemiefabriken sowie 39 Eisen- und Stahlwerke. Hinzu kamen die hochentwickelten landwirtschaftlichen Produktionsgebiete in Pommern, Ost- und Westpreußen, Schlesien sowie in der Neumark. Am Schluss des Artikels zitierte der „Spiegel“ den damaligen polnischen Industrieminister Hilary Minc mit den Worten: „Die Gewinn- und Verlustrechnung ergibt eine geradezu ideale Bilanz, so ideal, daß manchem Polen vor der Götter Neid zu grauen beginnt.“ 

Die vielfache Behauptung heutiger polnischer Vertreter, ihr Land habe für die erlittenen Kriegsverluste niemals eine Kompensation erhalten, ist somit falsch. 

Deutsche Probleme

Allerdings können sich Warschauer Politiker diese Haltung leisten, weil sie von den führenden Repräsentanten der deutschen Politik keine Gegenwehr mehr zu erwarten haben. Diese kennen die eigene Geschichte nicht mehr – und wollen sie auch nicht mehr kennen. Stattdessen klagen sie die von Deutschen während des Zweiten Weltkriegs begangenen Verbrechen an – und blenden dabei systematisch aus, dass es eben nicht nur deutsche Täter gab, sondern auch Millionen Deutsche, die mit den Verbrechen des NS-Regimes nichts zu tun hatten, dafür jedoch während des Krieges und danach (!) Opfer russischer, tschechischer, jugoslawischer und eben auch polnischer Täter wurden. 

Früheren Generationen war dies noch bewusst. Im 18. November 1965 schrieben die polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder die großen Worte: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“ Und nachdem Willy Brandt am 7. Dezember 1970 im Warschauer Vertrag die deutsche Ostgrenze anerkannt hatte, wandte er sich an seine Landsleute und sagte: „Wir dürfen nicht vergessen, dass dem polnischen Volk nach 1939 das Schlimmste zugefügt wurde, was es in seiner Geschichte hat durchmachen müssen. (…) Großes Leid traf auch unser Volk, vor allem unsere ostdeutschen Landsleute. Wir müssen gerecht sein: Das schwerste Opfer haben jene gebracht, deren Väter, Söhne oder Brüder ihr Leben verloren haben. Aber nach ihnen hat am bittersten für den Krieg bezahlt, wer seine Heimat verlassen musste.“ 

Von diesem Bewusstsein ist nichts mehr zu spüren. Bundespräsident Steinmeier etwa nennt in seinen erinnerungspolitischen Reden – zum Beispiel zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges in Wieluń oder im vergangenen Jahr zum Volkstrauertag – nur noch deutsche Verbrechen, deutsche Opfer kommen bei ihm nicht mehr vor. 

Die politische Dimension

In der aktuellen Debatte gehört auch erwähnt, dass Deutschland nach 1990 immer wieder als Vertreter polnischer Interessen in Europa und in der Welt aufgetreten ist. So erließen die im Pariser Club vertretenen Nationen 1991 auf Betreiben der Bundesregierung Polen die Hälfte seiner fast fünfzig Milliarden D-Mark Auslandsschulden. Dieser Schuldenerlass ermöglichte dem Land einen gedeihlichen Neustart nach dem Ende des Kommunismus. 

Seit Mitte der neunziger Jahre dann unterstützte niemand im Westen den polnischen Wunsch nach einem Beitritt in EU und zu NATO so entschieden wie die Bundesrepublik. Es waren weder die US-Amerikaner noch die Briten und Franzosen, sondern der deutsche Kanzler Helmut Kohl und seine Minister, die die Osterweiterung beider Bündnisse durchdrückten. 

Polen und Deutsche haben in den vergangenen Jahren einen weiten gemeinsamen Weg der Versöhnung zurückgelegt. Aus einstigen Kriegsgegnern wurden Verbündete. Die Volkswirtschaften beider Länder sind eng verflochten, Millionen Menschen haben das jeweils andere Land besucht, unzählige Kriegsspuren wurden in beeindruckenden Wiederaufbauprojekten beseitigt. Nicht zuletzt sind zwischen Deutschen und Polen unzählige persönliche Freundschaften entstanden – auch und gerade zwischen Angehörigen der Kriegsgeneration. 

Möglich wurde dies, weil die Verantwortlichen trotz aller historischen Wunden die Geister der Vergangenheit ruhen ließen und sie nie die Politik bestimmen ließen. Mit ihren aktuellen Forderungen rufen die PiS-Politiker nun allerdings eben jene unguten Geister herbei. Wohin dies auf lange Sicht führen kann, zeigt sich in der Ukraine. Seit dem 24. Februar 2022 tobt dort ein Krieg, der die europäische Nachkriegsordnung infragestellt – und der ebenfalls mit dem Verweis auf vermeintliche historische Ansprüche begründet wurde. 

Falls Polen nun offiziell Entschädigungsforderungen an Deutschland richten sollte, wäre das weit mehr als ein unfreundlicher Akt gegenüber einem Verbündeten. Es wäre das Aufkündigen eines jahrzehntelangen Konsenses – und somit gleichfalls ein Angriff auf die europäische Nachkriegsordnung. Natürlich ist das Aufstellen von Entschädigungsforderungen bei Weitem nicht das Gleiche wie die Eröffnung eines Angriffskriegs. In der Wirkung freilich, im Stiften von Unfrieden und Zwiespalt zwischen befreundeten Nationen, käme eine solche Forderung, deren Erfüllung letztlich zum Ruin des Partners führen würde, dem Beginn einer neuen Eiszeit gleich.