23.04.2024

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Folge 37-22 vom 16. September 2022 / Energiekrise / „Habeck will den totalen Ausstieg“ / Über die Folgen der drohenden AKW-Abschaltung, die Motive des Wirtschaftsministers und seiner grünen Partei sowie die Frage, ob Deutschland auf den kommenden Winter vorbereitet ist

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37-22 vom 16. September 2022

Energiekrise
„Habeck will den totalen Ausstieg“
Über die Folgen der drohenden AKW-Abschaltung, die Motive des Wirtschaftsministers und seiner grünen Partei sowie die Frage, ob Deutschland auf den kommenden Winter vorbereitet ist
René Nehring

Im Gespräch mit Anna Veronika Wendland

Trotz explodierender Energiekosten entschied Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, die Laufzeiten der letzten drei noch aktiven Atomkraftwerke nicht zu verlängern. Zwei AKW sollen jedoch in einen Streckbetrieb gehen, um im Notfall Strom liefern zu können. Wie realistisch ist das? Und was bedeutet Habecks Agieren für die vor uns liegende kalte Jahreszeit? Antworten gibt eine linke Kritikerin grüner Energiepolitik. 

Frau Wendland, sind wir nach der Entscheidung Robert Habecks, die letzten deutschen Atomkraftwerke vom Netz zu nehmen, stromtechnisch für den kommenden Winter präpariert?

Wir laufen auf jeden Fall Gefahr, nicht vorbereitet zu sein. Es sei denn, die Regierung greift auf Kohle- und Ölkraftwerke zurück, was sie ja auch angekündigt hat. Das hängt allerdings davon ab, wie viele Kraftwerke aus der Reserve mobilisiert werden können.

Die Anordnung Habecks bezüglich der AKW ist technisch nur sehr schwer durchführbar. Das Anfahren eines Kernkraftwerks mit einem Streckbetriebs-Reaktorkern aus kaltem Zustand stellt die Anlage vor ganz andere Herausforderungen als der – im Stresstest übrigens auch gemeinte – nahtlose Übergang in den Streckbetrieb ohne Abfahren der Anlage. Es ist auch ganz anders als ein normales Anfahren aus kaltem Zustand mit frischem Kernbrennstoff. Im letzteren Falle, also mit ca. 50 neuen Brennelementen pro Reaktor, könnten die Anlagen zügig anfahren und, einmal hochgefahren, auch sehr flexibel auf Laständerungen reagieren. Aber mit einem Streckbetriebskern, der kaum mehr kritisch ist, dauert das Anfahren aus reaktorphysikalischen und verfahrenstechnischen Gründen ein Vielfaches der normalen Anfahrzeit. Das wirkt sich natürlich auf die Reaktionsschnelligkeit bei einer Mangellage aus. Von den fehlenden Sicherheitsbetrachtungen für diesen Fall mal ganz abgesehen. 

Habeck hat also Bedingungen geschaffen, die kaum erfüllbar sind, tut aber so, als hätte er furchtbar über seinen Schatten springen müssen. In Wirklichkeit drückt er den Atomausstieg stur bis zum Ende durch, er will es aber angesichts der Notlage nicht so nennen. Das hat schon was von einer Mogelpackung.

Herr Habeck versucht in seinen Stellungnahmen gern den Eindruck zu vermitteln, als würde er sich bei seinen Entscheidungen von den Ratschlägen neutraler Sachverständiger leiten lassen. Wie glaubwürdig ist das?  

Das Team, mit dem sich Habeck in Energiefragen primär abspricht, besteht weitestgehend aus Parteipolitikern, die stramm auf Atomausstiegs- und Erneuerbare-Energien-Kurs sind. Diese Leute tun alles, um die Kernenergie loszuwerden. In ihrer Denkwelt schließen sich Kernenergie und Erneuerbare gegenseitig aus – obwohl man sie eigentlich gut zusammenspannen kann. Daher fürchten sie, eine krisenbedingte Laufzeitverlängerung könne die Kernenergie in unserem Energiesystem neu etablieren. 

Was der Wirtschaftsminister vorschlägt, folgt übrigens gar nicht den Empfehlungen des Stresstests, sondern widerspricht ihnen. Der Stresstest hat zugrunde gelegt, dass es drei AKW im Streckbetrieb gibt – nicht zwei im Nichtbetrieb und ein endgültig abgeschaltetes. Hinzu kommt, dass der Stresstest alternative Varianten wie diejenige, dass die Atomkraftwerke mit neuem Brennstoff ausgestattet werden und in den ganz normalen Leistungsbetrieb gehen, gar nicht erst durchgespielt hat. Offensichtlich gab es schon bei der Konzeption der Randbedingungen politische Vorgaben. So haben wir nun eine Schein-Lösung bekommen. Zudem soll über eine etwaige Reaktivierung der verbleibenden Notfall-Atomkraftwerke auch noch der Bundestag entscheiden. 

Es wäre also viel ehrlicher gewesen, zu sagen: „Schluss, der Atomausstieg wird am 31. Dezember durchgezogen wie im Atomgesetz vorgesehen.“ Stattdessen wird uns vorgegaukelt, man sei bereit, eine Reserve vorzuhalten. Habeck will den totalen Ausstieg – aber es fehlt ihm der Mut, auch alle Konsequenzen zu tragen. Diese Konsequenzen sind entweder eine Strommangellage oder – falls diese mit Fossilverstromung abgewendet wird – ein Crash der Klimaziele. Eins von beiden wird eintreten.

Lassen Sie uns nochmal auf die Stromversorger blicken. In vielen Medien wurde zuletzt der Eindruck vermittelt, als wollten diese selbst nicht mehr zur Atomkraft zurück. 

Die Betreiber sind von dem Hü-Hott um den Atomausstieg nicht begeistert, das stimmt. Kraftwerks-Einsatzplanung ist eine langfristige Aufgabe, Personal auszubilden ebenfalls. Doch haben die Betreiber eindeutig ihre Bereitschaft erklärt, in der Notlage die Kernkraftwerke am Netz zu halten.  

Dem Minister kommt es natürlich zupass, wenn der Eindruck entsteht, als würden die Betreiber nicht mitmachen. Was hier tatsächlich geschehen ist: Man kann durch ungünstige Rahmenbedingungen die Betreiber so in die Ecke treiben und den AKW so ungünstige Bedingungen diktieren, dass diese von sich aus erklären, keinen Beitrag zur Lösung der Energiekrise leisten zu können und aus Sicherheitsgründen auch nicht zu wollen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass dies zumindest ein Teil von Habecks Kalkül war. 

Allerdings kann es auch sein, dass gar kein Kalkül dahintersteckt und er einfach nur – wie so oft – Falschaussagen macht, weil er und sein Umfeld von der Kerntechnik nichts verstehen. Habecks Beschluss ist anzumerken, dass kein einziger Kernverfahrenstechniker oder Reaktorphysiker draufgeschaut hat. Auch die regierungseigene Expertise hat Habeck nicht genutzt – die der Reaktorsicherheitskommission nämlich. Dem Tonfall Habecks, wenn er über diese Kernkraftwerke redet, ist nachgerade anzuhören, dass er seinen Gesprächsgegenstand ablehnt und verachtet. 

Was ist mit den Staatssekretären, die gewöhnlich die Fachkompetenz absichern, wenn einem Minister die Expertise in seinem Ressort fehlt? 

Habeck hat sich in seinem Ministerium nicht mit Fachleuten aus der Energiewirtschaft, sondern mit Aktivisten aus der NGO-Szene umgeben. Patrick Graichen zum Beispiel ist Politologe und war Direktor der Denkfabrik „Agora Energiewende“, eine größtenteils privat finanzierte NGO, die zur Förderung der Erneuerbaren Energien gegründet wurde. Graichen war mit einer denkwürdigen Aussage in einer ZDF-Dokumentation über die Frage „Droht ein Blackout?“ zu sehen, als er die Sicherheitskultur der Netzbetreiber als „konservatives Mindset“ bezeichnete und implizit meinte, für die Etablierung des Erneuerbare-Energien-Systems brauche man mehr Risikofreudigkeit und weniger Angst um die Robustheit des Stromnetzes. Das steht schon in deutlichem Widerspruch zum sonstigen Verhalten der Grünen, die geringfügigsten Ereignisse in Kernkraftwerken zum Anlass zu nehmen, um deren Sicherheitskultur in Frage zu stellen. 

Aber diese Haltung bestätigt sich jetzt gewissermaßen in der wurschtigen Herangehensweise des Wirtschaftsministeriums an die Sicherheitsfragen beim Streckbetrieb aus Kaltstart, die die PreussenElektra ja angeführt hat. Netz- und Reaktorsicherheit scheinen also für diese Leute frei zur Disposition zu stehen, je nachdem, wie es politisch gerade in den Kram passt – und das beunruhigt mich schon sehr. 

Kann man oder muss man sogar sagen, dass hier mit Vorsatz die Energiewirtschaft an die Wand gefahren wird?

Zumindest wollen einige Verantwortliche mit Vorsatz die Kernenergie aus dem System nehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man so viele Fehler und Ungenauigkeiten, die hier gemacht wurden, nur aus Unwissenheit begeht. 

Herr Habeck hätte einen wunderbaren Ausweg gehabt, den er aber nicht genutzt hat: das Bekenntnis seiner Regierung, eine Klimaregierung zu sein. Er hätte sich angesichts der energiepolitischen Situation ein Beispiel an Olaf Scholz nehmen und den Begriff der „Zeitenwende“ zur Begründung für einen Befreiungsschlag in Sachen Atomkraft heranziehen können. Er hätte sagen können, dass die Kernenergie derzeit der einzige Ausweg ist, Versorgungs- und Klimasicherheit zusammenzudenken. Da wären auch viele Grüne mitgegangen. Auch die positiven Umfragewerte für die Kernenergie hätte man zur Begründung eines Schwenks heranziehen können. Doch die alte Parteielite der Grünen hätte das nicht hingenommen. Die Trittin-Fraktion ist offensichtlich durchaus noch in der Lage, die Partei zu sprengen. 

Das Drama für Deutschland ist, dass fast schicksalhaft ausgerechnet in diesem historischen Moment die Grünen in der Regierung sitzen, die fast im Alleingang über unsere Energiewirtschaft entscheiden können. Der Bundeskanzler lässt sie machen, denn große Teile der SPD unterscheiden sich in Energiefragen ja kaum mehr von den Grünen, obwohl sie die sozialen Konsequenzen von Mangellagen und Energiearmut doch ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellen müssten.

Spielt die alte Konsumfeindlichkeit grüner Milieus in der gegenwärtigen Politik noch eine Rolle? 

Das glaube ich weniger. Die Grünen haben ja durchaus die Vision von einem „Green Capitalism“ und von einer Ökologischen Marktwirtschaft. Aber sie glauben, man könne dies mit 100 Prozent „Erneuerbaren“ schaffen. Das ist die große Illusion. 100 Prozent „Erneuerbare“, das ist meiner Beobachtung nach nur mit einem massiven Rückbau der Industriegesellschaft zu haben – sonst werden uns Rohstoff- und Flächenbedarf der Erneuerbare-Energien- und Speichersysteme vor massive Probleme stellen. Die „Degrowther“ in der Klimabewegung machen da schon einen Punkt, sie sind ehrlicher als die Grünen und sagen: Weitermachen wie bisher ist so nicht möglich. Diese unangenehme Nachricht wiederum wollen die Grünen den Leuten lieber nicht zumuten. 

Ich glaube, die allerwenigsten Grünen haben ein technisches Grundverständnis von dieser ganzen Problematik. Die Grünen haben ein Ideal. Sie stammen fast alle aus bürgerlichen Milieus, die nie am eigenen Leibe spüren mussten, was Knappheit und Armut wirklich bedeuten. Und sie haben eine starke soziale Basis im öffentlichen Dienst, was bedeutet, dass sie anders als das Wirtschaftsbürgertum nicht ihr eigenes Geld ausgeben und dass sie überzeugt sind, der Staat könne alles per Gesetz und Verordnungen planen, gestalten und regeln. 

Wie ist Deutschland auf den kommenden Winter vorbereitet?

Stand heute ist Deutschland nicht genügend vorbereitet. Das sieht man schon an den verzweifelten Appellen der Bundesnetzagentur, die Leute mögen bitte wegen der Gasknappheit nicht auf Heizlüfter ausweichen. Das ist ja die Befürchtung, die ja durchaus begründet ist, wenn der Strompreis gedeckelt wird, der Gaspreis aber nicht, dass dann die Leute angesichts erschreckender Gasrechnungen auf elektrische Heizmittel zurückgreifen. 

In der Tat ist das Szenario, dass Millionen Gasheizungsbetreiber mit Heizlüftern ihre Wohnung wärmen, bedrohlich. Umso absurder ist es, zum Jahresende – also mitten im Winter – 4.200 Megawatt Atomstromleistung aus dem Netz zu nehmen.

Das Interview führte René Nehring.






Dr. habil. Anna Veronika Wendland ist Technik- und Osteuropahistorikerin in Marburg und wurde 2021 mit einer Arbeit über die Kerntechnische Moderne habilitiert. Im Frühjahr 2022 erschien ihre Streitschrift „Atomkraft? Ja bitte! Klimawandel und Energiekrise. Wie Kernkraft uns jetzt retten kann“ (Quadriga Verlag).