25.04.2024

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Folge 37-22 vom 16. September 2022 / Vertrauensfrage / Als Brandt Neuwahlen provozierte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37-22 vom 16. September 2022

Vertrauensfrage
Als Brandt Neuwahlen provozierte
Manuel Ruoff

Wenn es an Deutschlands Schulen oder anderen Einrichtungen der Volksbildung um die Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik und die daraus gezogenen Lehren für die Bundesrepublik geht, wird irgendwann auf die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums verwiesen, also die Regelung im Grundgesetzt, der zufolge es nicht reicht, dass sich eine Mehrheit im Parlament destruktiv auf den Sturz des Regierungschefs einigt, sondern sie vielmehr auch konstruktiv einen neuen wählen muss. Damit soll insbesondere verhindert werden, dass die extreme Linke und die extreme Rechte gemeinsam einen Regierungschef der Mitte stürzen können, ohne für Ersatz zu sorgen.

Allerdings wird die Bedeutung des konstruktiven Misstrauensvotums für die Stabilität der Bundesrepublik überschätzt. Es war nämlich nicht so, dass der Sturz einer Regierung in der Weimarer Republik per (destruktivem) Misstrauensvotum automatisch zu Anarchie und Chaos geführt hätte. Vielmehr blieb nicht selten die alte, gestürzte Regierung geschäftsführend im Amt. 

Dass eine nur geschäftsführende Regierung nicht automatisch schwach und schlecht sein muss, zeigt die Geschichte der Bundesrepublik. Als nach der vorletzten Bundestagswahl die Parteien sich Zeit ließen, eine neue Regierungskoalition zu bilden, war die Merkel-Regierung zeitweise nur geschäftsführend im Amt, ohne dass dies schwerwiegende Auswirkungen auf die Stabilität der Republik gehabt hätte oder die Forderung aufgekommen wäre, das Grundgesetz hier nachzubessern.

Umgekehrt kann der Regierungschef – egal ob nur geschäftsführend oder nicht – in einer parlamentarischen Demokratie, wie sie die Bundesrepublik eine darstellt, kaum regieren, wenn die Parlamentsmehrheit seine Politik ablehnt. Diese Erfahrung musste auch Bundeskanzler Willy Brandt vor einem halben Jahrhundert machen. Dass konstruktive Misstrauensvotum vom 27. April 1972 hatte er zwar wider Erwarten politisch überlebt, aber im Bundestag fand er keine Mehrheit für die Politik seiner sozialliberalen Regierung. 

So stellte er vor einem halben Jahrhundert die Vertrauensfrage in der Hoffnung, dass er sie verliert und es anschließend zu Neuwahlen kommt, die zu einer Parlamentsmehrheit für die Politik seiner sozialliberalen Regierung führen. Seine Hoffnung trog nicht; die Rechnung ging auf. 

Am 22. September 1972 sprachen nur 47 Prozent dem Kanzler das Vertrauen aus. 248 Nein- standen nur 233 Ja-Stimmen gegenüber bei einer Enthaltung. Um sicherzustellen, dass Brandt die „unechte Vertrauensfrage“ verlor, beteiligten sich die Regierungsmitglieder nicht an der Abstimmung. Bereits am darauffolgenden Tag löste Bundespräsident Gustav Heinemann den Bundestag auf, und es kam noch im selben Jahr zu Neuwahlen. Diese Wahlen zum 7. Deutschen Bundestag vom 19. November 1972 führten zu einer eindeutigen absoluten Parlamentsmehrheit für die beiden Regierungsparteien SPD und FDP von 282 Sitzen bei nur 234 Mandaten für die oppositionelle Union.