28.03.2024

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Folge 38-22 vom 23. September 2022 / Sicherheitspolitik / Ein Ruf zu mehr Realismus von höchster Stelle / In einem Interview hinterfragt der Generalinspekteur der Bundeswehr gängige Erzählungen zum Ukrainekrieg – und bewegt damit die internationalen Gemüter

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-22 vom 23. September 2022

Sicherheitspolitik
Ein Ruf zu mehr Realismus von höchster Stelle
In einem Interview hinterfragt der Generalinspekteur der Bundeswehr gängige Erzählungen zum Ukrainekrieg – und bewegt damit die internationalen Gemüter
Bodo Bost

Eberhard Zorn hat der Ukraine auch nach deren erfolgreicher Offensive bei Charkiw keine großen Erfolgsaussichten im Kampf gegen Russland prognostiziert. Russland verfüge noch über freie Kapazitäten, um eine zweite Front im Krieg gegen Deutschlands NATO-Verbündete zu eröffnen, und die Bundesrepublik habe der Ukraine bereits jede erdenkliche militärische Hilfe geleistet, sagte der Generalinspekteur der Bundeswehr in einem Interview mit dem Magazin „Focus“. 

Diese Aussagen haben eine internationale Lawine der Kritik ausgelöst. Der ehemalige Befehlshaber der US-amerikanischen Streitkräfte in Europa, General a.D. Ben Hodges, nannte die Aussagen des Bundeswehrchefs eine „erschütternd schlechte“ Analyse der Fähigkeiten der russischen Armee, die leider einen Großteil des Denkens der deutschen „Elite“ widerspiegele. Dabei setzte er Elite bewusst in Anführungszeichen. 

„Obwohl 60 Prozent der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine eingesetzt werden, verfügt Russland noch über freie Kapazitäten vor allem in der Luftwaffe und Marine“, so Zorn. „Wenn Putin eine Generalmobilmachung anordnet, hat er keinen Personalmangel mehr“, so der deutsche Generalinspekteur weiter. Ein Entlastungsangriff Putins könnte in der Nähe von Königsberg, an der Ostsee oder an der finnischen Grenze stattfinden. 

„Finnland allein könnte die derzeitigen russischen konventionellen Streitkräfte vernichten, (...) Litauen/Polen würden Königsberg in einer Woche erwürgen“, twitterte und konterte Hodges. Tatsächlich hatte Finnland zu Beginn des Winterkriegs von 1939/40 ohne ausländische Unterstützung einem Angriff der Roten Armee monatelang standgehalten, ehe es im Friedensvertrag von Moskau erhebliche territoriale Zugeständnisse machen, vor allem große Teile Kareliens abtreten musste.

Zweifel an „Gegenoffensive“

In demselben Interview sagte Zorn, er sei „vorsichtig“, den ukrainischen Vorstoß als Gegenoffensive zu bezeichnen, denn die ukrainischen Gegenangriffe „können dazu dienen, Gebiete oder eingedrungene Sektoren der Front zurückzuerobern, aber nicht, Russland auf breiter Front zurückzuschlagen“. Er bezweifelte auch, dass die Ukraine in der Lage sein würde, eine Gegenoffensive aufrechtzuerhalten, da es dem Land an Personal mangeln könnte. Die ukrainische Armee agiere zwar „klug, bietet selten eine Breitseite und führt souverän und sehr beweglich die Operationen“. Noch vor zwei Wochen habe er geglaubt, dass der gesamte Donbass in sechs Monaten in russischer Hand sein werde. „Heute sage ich: Das werden sie nicht schaffen.“ Aber ob die Ukrainer wirklich die Kraft für eine umfassende Gegenoffensive hätten, bezweifelt der ranghöchste Soldat der Bundeswehr: „Sie bräuchten eine Überlegenheit von mindestens 3 zu 1“.

Zorn erklärte auch, dass Deutschland bereits alle möglichen Waffen an die Ukraine übergeben habe und hoffe, sie zurückzubekommen, da sie zur Abschreckung benötigt würden. „Alles, was wir gegeben haben, werden wir zurückbekommen müssen (...) Wir brauchen die richtigen Kräfte für eine wirksame Abschreckung. Unsere Partner erwarten das von uns“, so der General gegenüber „Focus“. 

Deutschland wird zunehmend von der NATO-Führungsmacht USA schleppende Lieferung von Militärhilfe an die Ukraine vorgeworfen, obwohl Bundeskanzler Olaf Scholz versprochen hat, dass moderne Luftabwehrsysteme an die Ukrainer geliefert würden. Von denen könnten zwei jedoch erst Ende dieses Jahres und zwei weitere im nächsten Jahr eintreffen. 

Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) erklärte gegenüber „The Telegraph“, dass die Äußerungen des deutschen Generals „ein Versuch waren, Deutschlands eigene Ängste zu beruhigen“. „Die Sozialdemokraten wollen nicht“ mehr Waffen „liefern und ziehen jetzt alle Register“, so der Analyst. Rob Lee, ein Forscher in der Abteilung für Kriegsstudien am King’s College London, nannte die Behauptungen des deutschen Generals „bizarr“.