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Folge 38-22 vom 23. September 2022 / Memel / Mit der „Singenden Revolution“ in die Freiheit / Die Stadtschreiberin in Memel erinnert an die Freiheitsbestrebungen in Litauen, Lettland und Estland am Ende der Sowjetunion

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-22 vom 23. September 2022

Memel
Mit der „Singenden Revolution“ in die Freiheit
Die Stadtschreiberin in Memel erinnert an die Freiheitsbestrebungen in Litauen, Lettland und Estland am Ende der Sowjetunion
Sonya Winterberg

In diesen Tagen jährte sich zum 33. Mal ein Ereignis, das in der Geschichte der Sowjetunion und des Baltikums einmalig war. Am 23. August 1989, in Erinnerung an den fünfzigsten Jahrestag des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages und des folgenreichen geheimen Zusatzprotokolls, bildeten bald zwei Millionen Esten, Letten und Litauer eine 600 Kilometer lange Menschenkette von Tallinn quer durch das Baltikum bis Wilna. Ziel war es, in ihrem Bestreben nach Freiheit und Selbstbestimmung ein Zeichen zu setzen. Das geheime Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages, in dem das Deutsche Reich und die Sowjetunion die baltischen Staaten und Polen unter sich aufgeteilt hatten, zementierte Jahrzehnte großen Leids und den weitgehenden Verlust der eigenen Identität und Kultur für die Balten. Dabei hatten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs große Teile des Baltikums zum Russischen Zarenreich gehört. Zwischen 1914 und 1918 wurde das gesamte Gebiet schrittweise von deutschen Truppen besetzt. Die daraus folgende Trennung von Russland sowie der deutsche Rückzug nach dem verlorenen Krieg bereiteten den Weg in die Unabhängigkeit der drei baltischen Länder. Estland und Litauen erklärten im Februar 1918 die staatliche Souveränität, Lettland im November des gleichen Jahres.

In der Zwischenkriegszeit blieben die drei Staaten unabhängig und gaben sich moderne Verfassungen. In Folge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages 1939 wurden „sozialistische Revolutionen“ inszeniert, die nach Ansicht der Sowjetunion den Ausschlag gaben, dass Estland, Lettland und Litauen als sozialistische Sowjetrepubliken der UdSSR beitraten. Bis heute ist Russland mit dieser Auffassung alleine. Die baltischen Länder wie ihre Verbündeten bezeichnen den „Beitritt“ bis heute als Annexion. Was vor Kurzem noch wie reine Wortklauberei erschien, wurde in Zeiten des Ukrainekrieges zu einem kleinen, aber feinen Unterschied, wenn Russland heute erneut versucht, die Unabhängigkeit der baltischen Länder in Zweifel zu ziehen. 

Chorfest führt zur Unabhängigkeit

Mit Ende des Zweiten Weltkriegs setzte sich die Sowjetisierung des Baltikums fort und wurde von drakonischen Strafmaßnahmen begleitet: Hunderttausende wurden bis in die 1950er Jahre nach Sibirien verschleppt, um den Widerstand gegen die Sowjetherrschaft zu brechen. Neben den Deportationen wurden gezielt russischstämmige Industriearbeiter in den drei baltischen Sowjetrepubliken angesiedelt. Bis 1957 durften darüber hinaus die jeweiligen Landessprachen nicht an den Schulen unterrichtet werden.

Nachdem im Sommer 1988 Hunderttausende Sänger zu einem Chorfest nach Tallinn gekommen waren, um den ungebrochenen Freiheitswillen ihrer Länder zu bezeugen, war die baltische Unabhängigkeitsbewegung geboren. Das friedliche Singen ihrer Volkslieder gab den Balten ein neues Nationalbewusstsein und ihrer Bewegung schließlich den Beinamen die „Singende Revolution“. Das historische Datum des 23. Augusts hatte für Esten, Letten und Litauer eine gemeinsame Bedeutung. So waren ihre Länder die einzigen in Europa, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre zuvor vorhandene staatliche Eigenständigkeit durch die sowjetische Besetzung nicht wiedererlangt hatten. An diesem Tag 1989 wurde mit der Menschenkette „Der Baltische Weg“ Wirklichkeit. 

Litauen war die erste Sowjetrepublik, die sich im Frühjahr 1990 für unabhängig erklärte. Um dies rückgängig zu machen, ließ der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow am 13. Januar 1991 mit Spezialeinheiten Wilna überfallen. Dabei hatte er jedoch den unbedingten Freiheitswillen der Litauer unterschätzt. 14 Menschen kamen damals ums Leben, mindestens 700 Menschen wurden verletzt – zum Teil schwer. Bevor fast alle Telefonleitungen ins Ausland gekappt wurden, übermittelte Parlamentspräsident Vytautas Landsbergis französischen Journalisten einen verzweifelten Hilferuf: „Das ist ein regelrechter Krieg, die Sowjetunion gegen Litauen. Sie schießen auf unser Volk. Wir können keinen wirklichen Widerstand leisten, wir haben nur zwanzig Gewehre. Das ist alles. Die Sowjets haben hundert Panzer und Tausende Fallschirmjäger.“ 

Die internationale Anerkennung erfolgte schließlich im Sommer 1991 – freilich nicht sofort von sowjetischer Seite.

Doch am Ende siegte das litauische Volk. Rita Süßmuth erinnert sich im Vorwort des Buches „Wir sind die Wolfskinder – Verlassen in Ostpreußen“ an den großen Druck, der auf den Bundestagsabgeordneten in jenen Tagen lastete. „Dass ich dennoch Anfang September 1991 als erster hochrangiger Politiker nach Litauen flog, um Gespräche mit der von der Sowjetunion nicht anerkannten Regierung zu führen, stieß auf wenig Gegenliebe. Wir sollten nicht nach Litauen fahren, waren aber dennoch da. Die Eindrücke waren bedrohlich und haben sich mir tief eingeprägt. Rund um das Parlament in Vilnius waren noch die Barrikaden aus Sandsäcken zu sehen, die das Gebäude schützen sollten, um den Angriff sowjetischer Truppen zu widerstehen.“ Und weiter: „Ich nahm damals unbürokratisch und ohne protokollarische Abstimmung mit Bonn einen schwer verletzten litauischen Soldaten mit zurück nach Hamburg, dem die dringend notwendige medizinische Hilfe sonst verwehrt geblieben wäre. Im Bundeswehrkrankenhaus wurde er sechs Monate behandelt und konnte danach wieder gesund in seine Heimat zurückkehren.“

Wer in diesem Jahr in Litauen zu tun hat, kommt nicht umhin, die enorme Hilfsbereitschaft gegenüber der Ukraine wahrzunehmen. Das Mitgefühl ist groß, die Erinnerung an 1991 noch frisch – ebenso wie das Wissen darum, dass Freiheit einen Preis hat. Die deutsche Botschaft in Litauen schreibt aus gegebenem Anlass dieses Tages auf ihrer Facebook-Seite: „Der Baltische Weg ist auch heute noch ein leuchtendes Beispiel für Einigkeit, für ein gemeinsames Ziel: FREIHEIT, bei der Unterstützung der Ukraine im Kampf um Freiheit.“






Sonya Winterberg ist seit Mai 2022 Stadtschreiberin in Memel. Das Stadtschreiber-Stipendium wird jedes Jahr vom Deutschen Kulturforum östliches Europa vergeben.