29.03.2024

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Folge 39-22 vom 30. September 2022 / Das Ende des Heroismus / Die russische Mobilmachung im Ukrainekrieg führte zur Flucht von hunderttausenden Männern und offenbart, dass nicht nur die Gesellschaften des Westens keine Lust mehr auf Kriege haben. Doch was folgt daraus für den Fortgang des Kriegs im Osten?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-22 vom 30. September 2022

Das Ende des Heroismus
Die russische Mobilmachung im Ukrainekrieg führte zur Flucht von hunderttausenden Männern und offenbart, dass nicht nur die Gesellschaften des Westens keine Lust mehr auf Kriege haben. Doch was folgt daraus für den Fortgang des Kriegs im Osten?
Herfried Münkler

Durch die jüngst verkündete und unmittelbar in Gang gesetzte Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte hat Präsident Wladimir Putin die von ihm bislang verwendete, den Krieg als Krieg leugnende Formel von der „militärischen Spezialoperation“ selbst Lügen gestraft. Eine Mobilmachung gehört nun einmal zum Krieg, gleichgültig, ob sie nur einen Teil der Reservisten betrifft oder gleich als Generalmobilmachung alle Reservisten kampfbereit macht. 

Mobilmachung heißt, dass eine Gesellschaft vom Friedens- auf den Kriegsfuß versetzt wird. Damit zieht der Krieg in den gesellschaftlichen Alltag ein, von der Organisation der Arbeitsabläufe, bei denen die zum Militär Eingezogenen ersetzt werden müssen, bis hin zur vorherrschenden Mentalität einer Gesellschaft. Das hatten Putin und seine Entourage eigentlich vermeiden wollen. Deswegen hatten sie die Verwendung des Wortes „Krieg“ in den Medien unter Strafe gestellt. Sie wollten einen Eroberungskrieg führen, ohne dass vom Krieg die Rede war: zunächst, um das völkerrechtliche Verbot der Führung eines Angriffskriegs zu unterlaufen, vor allem aber, um keine Besorgnis, keine Unruhe, keinen Widerspruch in Russland aufkommen zu lassen.

Fliehende Russen

Das ist misslungen. Der Ansturm vieler russischer Männer auf Flugtickets, mit denen sie vorzugsweise in die Türkei gelangen wollten, die sich stauenden Autokolonnen an den Grenzen zu Finnland, nach Georgien und in die zentralasiatischen Republiken zeigen, dass der Krieg bei einem Teil derer, die nun damit rechnen müssen, an die Front geschickt zu werden, keineswegs auf begeisterte Zustimmung stößt. Das wird noch deutlicher werden, wenn die Gefallenenzahlen weiter ansteigen. Jetzt zeigt sich, dass keineswegs nur die liberalen Gesellschaften des Westens, sondern auch Russland, jedenfalls das Russland der größeren Städte, vor allem aber die russische Mittelschicht zu den postheroischen Gesellschaften gehören, die auf die Kriegsgeschichte ihrer Länder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Distanz und Ablehnung zurückblicken und diesen Rückblick unter die Parole des „Nie wieder!“ gestellt haben. 

Der Konflikt zwischen politischer Propaganda und der Erfahrung des Krieges wird das propagandistische Gerede schnell in sich zusammenfallen lassen. Das Bittere daran ist, dass es in Russland der realen Kriegserfahrung bedurfte und bedarf, um die zuvor offenbar recht wirkmächtige Propaganda zu widerlegen. Das führt zur Beobachtung einer Paradoxie: die postheroische Mentalität eines Teils der russischen Bevölkerung ist erst durch den mutigen, tapferen, um nicht zu sagen: heroischen Widerstand der angegriffenen Ukrainer ins Spiel gekommen.

Die Diagnose des Postheroischen wird häufig missverstanden und mit der des Unheroischen verwechselt. Das ist falsch. Dass postheroische Gesellschaften auf spezifische Herausforderungen, wie etwa den Angriff einer überlegenen Macht, heroisch reagieren können, zeigt das Beispiel der Ukraine, die bis zum Beginn der russischen Pressionen und Angriffe ebenfalls eine postheroische Gesellschaft war. Postheroisch sind Gesellschaften dann, wenn sie eine notorisch defizitäre demografische Entwicklung haben und das religiöse Feuer, aus dem sich unbedingte Opferbereitschaft speist, in ihnen erloschen ist. Heroische Gemeinschaften und Gesellschaften befinden sich ständig im Modus der Kampfbereitschaft; es ist eine dauernde Anstrengung, sie ruhig und in Frieden zu halten. Postheroische Gesellschaften hingegen lassen sich nur mühsam und nur unter der Bedingung einer großen äußeren Bedrohung in Kampfbereitschaft versetzen. Aber wenn sie sich verteidigen müssen, wenn es um ihren Fortbestand, ums Überleben in der selbst und frei gewählten Existenzweise geht, sind sie sehr wohl zu heroischem Widerstand in der Lage.

Ob der Eintritt in einen solchen Prozess der Selbstheroisierung gelingt oder scheitert, hängt offenbar davon ab, ob eine Gesellschaft als Verteidiger oder Angreifer in den Krieg eintritt, ob sie durch die Aggression eines anderen in den Krieg hineingezwungen wird und sich verteidigt, um der zu bleiben, der sie ist, oder ob sie über einen anderen herfällt, um ihm einen Willen aufzuzwingen, der nicht der seine ist. Die Differenz zwischen Verteidiger und Angreifer scheint existentiell zu sein, sonst hätte die russische Propaganda nicht mit allen nur vorstellbaren Lügen versucht, Russland, den Angreifer, als Angegriffenen darzustellen. Das hatte sicherlich auch mit dem völkerrechtlichen Verbot des Angriffskrieges zu tun, aber mindestens ebenso dürfte die russische Selbstdarstellung damit zu tun gehabt haben, dass man den Kampfeswillen und die Opferbereitschaft der Bevölkerung auf diese Weise stimulieren wollte. Auch dieses Vorhaben kann mit der Entscheidung zur Teilmobilisierung als gefährdet angesehen werden, denn die Entsendung der jetzt Mobilisierten wird auch den bislang für die Propaganda Empfänglichen deutlich machen, dass Russland einen Eroberungskrieg führt.

Akte der Verzweiflung

Von westlichen Politikern ist jetzt zu hören, dass sie in der russischen Teilmobilmachung keinen Akt der militärischen Stärke sehen, sondern eher einen der Verzweiflung, bei dem man zu Mitteln mit erheblichem Selbstzerstörungsrisiko greift. Dass die Entwicklung der nächsten Monate in diese Richtung geht, ist nicht unwahrscheinlich, wenn drei Bedingungen erfüllt werden: dass die jetzt an die Front geschickten russischen Reservisten keine größere Kampfkraft entwickeln als die bisher eingesetzten Verbände aus Berufs- und Zeitsoldaten; sodann, dass die ukrainische Armee den zuletzt gezeigten Kampfeswillen beibehält und weiterhin so taktisch flexibel und kreativ agiert wie in den Schlachten von Kiew und Charkiw; und vor allem, dass der Westen weiterhin in dem erforderlichen Umfang und der geforderten Qualität Waffen und Munition liefert, um sicherzustellen, dass die quantitative Überlegenheit der Russen an Soldaten und Material keine ausschlaggebende Relevanz erlangt. Es spricht manches dafür, dass alle drei Vorbedingungen eintreten.

Offenbar rechnet auch die russische Führung mit einer solchen Entwicklung, sonst hätte sie nicht die bislang mehrfach angekündigten und immer wieder verschobenen Referenden im Donbass in aller Eile durchführen lassen. Wobei klar ist, dass es sich hier nicht um freie Abstimmungen handelt, wie sie nur nach einem Abzug der russischen Truppen und unter Kontrolle der Vereinten Nationen hätten durchgeführt werden können. Es ging und geht darum, aus ukrainischem Staatsgebiet durch Scheinabstimmungen Territorium der Russländischen Föderation zu machen. Würde man der Scheinlegitimation der angeblichen Referenden folgen, so wäre die 

ukrainische Armee bei der Rückeroberung des russisch besetzten ukrainischen Staatsgebiets nämlich mit einem Mal der Angreifer und die russischen Besatzer wären die Verteidiger.

Mit diesem gefälschten Rollentausch will die Führung im Kreml sich eine Reihe von Optionen eröffnen, unter anderem die Perspektive, dass die eigenen Truppen eine höhere Kampfmotivation entwickeln als bisher. Sie will sich weiterhin die Möglichkeit einer Heroisierung ihrer Bevölkerung mit dem Trick gefälschter Referenden erschleichen. Des Weiteren geht es darum, dem russischen Besatzungsregime so eine Legitimation zu verschaffen, die es den bislang Neutralen ermöglicht, offen eine prorussische Position zu beziehen, insofern die Annexion von Teilen des Donbass und der ukrainischen Schwarzmeerküste als Erfüllung des Mehrheitswillens der dortigen Bevölkerung anzusehen sei. Dass das gelingt, wird man bezweifeln dürfen, weil die Anerkennung eines solchen Vorgehens die Grenzen auch von Ländern in Frage stellen würde, die eigentlich die Nähe zu Russland suchen. Vor allem China dürfte damit ein Problem haben: Würde es die Referenden in der Ukraine anerkennen, müsste es auch ein auf Taiwan abgehaltenes Referendum zur Abspaltung von China anerkennen. 

Eskalationsrisiken

Vor allem aber transportieren die Referenden ein unbeherrschbares Eskalationsrisiko, da die russische Nuklearstrategie vorsieht, dass beim Vorstoß gegnerischer Truppen auf russisches Gebiet, als welches nach der Referendenfiktion ja die entsprechenden Oblaste gelten würden, Atomwaffen gegen die „Angreifer“ eingesetzt werden können. Man kann das in die lange Reihe der auf Einschüchterung abzielenden Drohungen des Kremls an die Adresse der Europäer einordnen, die deren militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine einschränken sollen, damit die quantitative Überlegenheit Russlands an der Donbass-Front zum Tragen kommen kann. 

Im hier besprochenen Kontext der postheroischen Gesellschaft und des Heroisierungsdefizits in Russland drängt sich die Feststellung auf, dass Atomwaffen die mithin unheroischsten Waffen sind, die in der Geschichte des Krieges zum Einsatz gebracht worden sind. Die Permanenz, mit der vom Kreml die Atomwaffendrohung in immer neuen Varianten wiederholt wird, spricht dafür, dass Putin und seine Entourage um die Heroisierungsdefizite Russlands wissen und diese mit nuklearen Eskalationsdrohungen zu kompensieren suchen. Die Europäer aber sollten wissen, welche Lerneffekte ein Nachgeben gegenüber den russischen Drohungen haben würde: die Heraufkunft einer Welt, in der nukleare Erpressung an der Tagesordnung ist, weswegen alle möglichen Mächte, die jetzt an den Besitz von Atomwaffen noch nicht einmal denken, eilends bestrebt sein werden, sich solche zu beschaffen. 






Prof. Dr. Herfried Münkler war bis 2018 Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Büchern gehören „Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“ (2013) und „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648“ (2017, jeweils Rowohlt). 

www.rowohlt.de