19.04.2024

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Folge 39-22 vom 30. September 2022 / Beobachtungen in Königsberg / „Wie zu Stalins Zeiten“ / Unbekümmertheit, Angst und Fluchtgedanken – Die Menschen gehen unterschiedlich mit der aktuellen politischen Lage um

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-22 vom 30. September 2022

Beobachtungen in Königsberg
„Wie zu Stalins Zeiten“
Unbekümmertheit, Angst und Fluchtgedanken – Die Menschen gehen unterschiedlich mit der aktuellen politischen Lage um
Ilja Grigorinskij

Vor Kurzem habe ich Königsberg besucht. Einmal lief es mir heiß und kalt über den Rücken, als ich in einem Café unbedacht das Wort „Krieg“ aussprach. Dabei spielt es gar keine Rolle, dass ich den Ersten Weltkrieg meinte, denn in Russland ist heute nicht nur verboten, dieses Wort öffentlich auszusprechen, sondern auch das Wort „Frieden“. Denn wenn man von Frieden spricht, bedeutet das automatisch, dass man gegen Putins militärische Spezialoperation ist. 

Damit ist man ein Feind des Vaterlandes, der die russische Armee diskreditiert. Und dafür wandert man ins Gefängnis. Es dauert nur ein paar Tage und das Urteil steht. Es gibt viele solcher Beispiele. Es gibt Fälle von der Verfolgung und Bestrafung von Menschen in der Königsberger Region: Sie kamen zu einer erlaubten Protestdemonstration mit einem leeren (!) Blatt Papier in der Hand – leer auf beiden Seiten – und wurden von der Polizei oder der Nationalgarde (Rosgwardia) festgenommen.

„Krieg“ und „Frieden“ verboten

Ich muss sagen, dass die Demonstrationen und Kundgebungen bis zum Tag vor Putins Teilmobilmachung immer kleiner wurden. Als Protestler die Freilassung von Alexej Nawalnyj forderten, waren es noch Hunderte Teilnehmer, danach waren es nur noch Dutzende. Die Menschen haben Angst. Es ist wie zu Stalins Zeiten. Ich war jeden Tag im Café, traf Bekannte und Freunde. Alle warnten mich. „Ilja, halt den Mund, es ist fast wie 1937. Aus der Ukraine werden Särge mit den Leichen junger Menschen gebracht – die Beamten bezeichnen sie als Helden. Aber wofür sind diese Leute gestorben? Hat jemand ihr Heimatland angegriffen, wollte es ihnen wegnehmen?“

Ich habe mir die Bewohner Königsbergs angesehen. Die jungen Leute sehen gut aus: Sie lachen, scherzen, eilen ihren Geschäften nach. Alle sind gut gekleidet, die jungen Frauen sind geschminkt. Sie sprechen ein reines Russisch, es gibt fast keinen Jargon, man ist kultiviert. Ich habe auch englische Wortfetzen gehört. Die Jungen üben. Sie sagen offen: „Ja, ich will weg, gut leben und Geld verdienen. Hier gibt es wenig Perspektiven.“

Kaum ein Lächeln zu sehen

Bei der mittleren Generation sieht man nur wenige Leute lächeln. Stellt man ihnen eine Frage, dann schauen sie einen  genau an: Gibt es eine Gefahr, ist er vielleicht von den Organen für innere Angelegenheiten? Sie stehen an Bushaltestellen und wechseln kein Wort miteinander. Vor 20 Jahren war das nicht so, die Leute waren freundlicher.

Übrigens ist der Stadtverkehr sehr gut ausgebaut. Es dauert nur wenige Minuten, bis ein Trolleybus, eine Straßenbahn oder ein Taxi kommt. Viele teure Automarken stehen in Staus, aber die Fahrer sind höflich. Wie überall gibt es wohlhabende Leute.  

Die Gesichter der älteren Generation wirken verschlossen. Viele haben die Mundwinkel nach unten gezogen, ein Schatten der Besorgnis liegt auf ihren Gesichtern. Ich treffe Bekannte. Wir sprechen zuerst über die Rente und über Krankheiten – das Geld ist knapp, aber Krankheiten sind reichlich vorhanden – und erst dann über die Kinder und Enkelkinder. Viele von ihnen sind altmodisch gekleidet. Es ist offensichtlich, dass ihre Garderobe schon lange nicht mehr erneuert worden ist. Sie halten ihre Taschen fest umklammert. Einige Ältere, vor allem Frauen, stehen mit leeren Händen da. In den Geschäften und auf den Lebensmittelmärkten gibt es reichlich Lebensmittel, aber die Preise steigen und steigen. Viele Rentner kaufen nur wenig Butter, Gemüse, Fisch und Fleisch. Die Produkte werden vor Ort erzeugt – die Region versorgt sich inzwischen selbst mit Lebensmitteln. Die landwirtschaftlichen Produkte sind gut. Es riecht nach Natur und nach vertrauten Geschmäckern aus der Kindheit ...

Ich habe mit älteren Menschen gesprochen, die emotional und leidenschaftlich ihre Ängste zum Ausdruck brachten: Was wird morgen passieren? Nur wenige Menschen blicken zuversichtlich in die Zukunft. Sie befürchten, dass das Geld nicht für die Wohnung oder für das Nötigste zum Leben reichen wird. In ihren Augen liegt ein gewisser Groll: „Wie kommt es, dass ich so viele Jahre lang ehrlich gearbeitet habe, warum bin ich jetzt in dieser Position?“ Es gibt keine Antwort, weder von Verwandten, noch von Zeitungen, Politikern oder dem Fernsehen.

Was wird morgen passieren?

Ich muss ergänzen, dass es auf den Straßen eine ganze Reihe von Autos mit deutschen Nummernschildern gibt. Unter ihren Besitzern befinden sich oft vierzigjährige Männer – Deutschstämmige aus Kasachstan oder Sibirien (Spätaussiedler) –, die bereits beschlossen haben oder darüber nachdenken, dauerhaft in die Region zu ziehen. Sie bauen und kaufen Häuser in Dörfern (nicht in Städten).

Eine andere Besucherkategorie sind  der deutsche Ehemann und die russische Ehefrau. Diese Leute fahren meist einfach ans Meer, in den Urlaub. Die Haltung der Einheimischen gegenüber Menschen beider Kategorien ist wohlwollend und ruhig.

Ich hätte noch ein paar Tage bleiben können, es war noch Zeit, aber ich beschloss früher abzureisen. Ein russisches Sprichwort besagt, dass man nicht mit dem Feuer spielen solle, um auf der sicheren Seite zu sein. Und als ich die russisch-polnische Grenze überquerte, atmete ich erleichtert auf: Das war‘s, ich muss nicht mehr über jedes Wort nachdenken.