19.04.2024

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Folge 40-22 vom 07. Oktober 2022 / Kommentar / Veränderte Lage

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-22 vom 07. Oktober 2022

Kommentar
Veränderte Lage
René Nehring

Mehr als sieben Monate nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ist ein Ende des Kriegs kaum in Sicht. Im Gegenteil: Fast zeitgleich zu einem russischen Scheinreferendum über den Beitritt von vier ukrainischen Verwaltungsbezirken sorgt eine ganze Reihe von Sprengungen an den Nord-Stream-Pipelines dafür, dass in den kommenden Monaten kein russisches Gas nach Mitteleuropa fließt. Man muss es genauso, von der Konsequenz her, formulieren. Denn die Mehrheit der deutschen Medien zeigte nach Sichtbarwerden der aufsteigenden Gasblasen in der Ostsee reflexhaft mit dem Finger nach Russland – freilich ohne einen Beleg. 

Angriff auf Deutschland und Europa 

Stellt man die alte Frage „Cui bono?“ (Wem nützt es?), wird man eher in eine andere Richtung schauen müssen. Der ehemalige polnische Außenminister Radosław Sikorski zumindest setzte auf Twitter unter ein Bild von dem Sabotage-Akt die Worte „Thank you, USA“. Schnell kursierten im Netz Video-Schnipsel einer Rede von US-Präsident Joe Biden vom 7. Februar 2022, in dem er ankündigte, dass im Falle eines russischen Angriffs gegen die Ukraine die USA das Nord-Stream-Projekt beenden werde. 

Ein Beweis dafür, dass die US-Amerikaner den Sabotage-Akt auch tatsächlich verübt haben, ist das freilich nicht, ebenso wenig wie der Umstand, dass der Nachrichtendienst Bloomberg vor Wochen berichtete, dass sich die US-Gasexporte nach Europa seit Ausbruch des Krieges verdreifacht haben. Und doch kann niemand von denen, die Russland für den Anschlag verantwortlich machen, erklären, welchen Sinn es für die Russen haben soll, Gasleitungen, für deren Bau sie etliche Milliarden Euro investiert haben, in die Luft zu jagen. Wenn sie dem Westen schaden wollen, brauchen sie nur den Gashahn zuzudrehen. 

Was im Rahmen der Nord-Stream-Sabotage auffällt ist die Sprachlosigkeit der deutschen und europäischen Politik. Denn die Gasleitungen waren nie ein deutsch-russisches Sonderwegs-, sondern ein europäisch-russisches Gemeinschaftsprojekt. An Nord Stream 1 sind nicht nur Gazprom, Wintershall und E.ON beteiligt, sondern auch der niederländische Staatsbetrieb Gasunie und der französische Energieversorger Engie. Nord Stream 2 wurde von mehreren westlichen Partnern finanziert. 

Dies gilt es zu berücksichtigen bei der Bewertung der möglichen Folgen des Sabotage-Akts. Dieser war nicht nur ein Angriff gegen die Infrastruktur Russlands oder Deutschlands, sondern gegen mehrere Staaten der Europäischen Union und damit gegen die EU insgesamt. Dieses Faktum spricht – bei allen Argumenten, die für eine US-Verantwortung sprechen – gegen eine Täterschaft der USA. Denn eine vorsätzliche Zerstörung ihrer Energieversorgung können die Europäer niemandem durchgehen lassen. Käme heraus, dass Washington hinter den Anschlägen steckt, wäre die NATO in einer kaum zu reparierenden Weise beschädigt. 

Letztlich mag man nicht glauben, dass einer der Kriegsparteien, so – pardon – blöd ist, einen solchen Akt zu begehen. Und doch hat es jemand getan.

Nochmal zur Sprachlosigkeit der hiesigen politischen Akteure: Wie in jeder Situation sollte man sich auch jetzt davor hüten, Akteure vergangener Zeiten zu glorifizieren. Auch sie waren in ihren aktiven Tagen keineswegs unumstritten. Und doch fällt es schwer zu glauben, dass Männer wie Konrad Adenauer, Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl oder – weiter zurückliegend – Gustav Stresemann und Otto v. Bismarck ähnlich teilnahmslos geblieben wären wie die heutigen Verantwortlichen. 

Putins runder Geburtstag

Apropos Verantwortliche: Der wichtigste Akteur in dem Geschehen ist noch immer der russische Präsident. Wladimir Putin wird am Freitag dieser Woche 70 Jahre alt. Was an diesem Tag in seinem Inneren vorgeht, weiß außer ihm niemand. Seit seinem Betreten der Weltbühne hat er zumindest immer wieder davon geträumt, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verloren gegangene Größe Russlands wiederherzustellen. Damit ist er gescheitert. 

Scheitern werden freilich auch diejenigen, die glauben, Russland besiegen zu können. Mögen die Ukrainer derzeit auch in zahlreichen Operationen die russischen Eindringlinge zurückdrängen, so bleibt Russland doch auch künftig ein Faktor der europäischen Politik, an dem auf Dauer niemand vorbei kann.