25.04.2024

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Folge 42-22 vom 21. Oktober 2022 / Kreis Labiau am kurischen Haff / „Kartoffelkes, scheene blanke Kartoffelkes“ / So war es damals – Kartoffelanbau sehr speziell im einst größten Hochmoor Ostpreußens

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-22 vom 21. Oktober 2022

Kreis Labiau am kurischen Haff
„Kartoffelkes, scheene blanke Kartoffelkes“
So war es damals – Kartoffelanbau sehr speziell im einst größten Hochmoor Ostpreußens
Brigitte Stramm

Die „Blaue Blanke“ aus dem Moosbruch war eine begehrte Kartoffel, sowohl auf den Märkten in Königsberg, Tilsit, Insterburg usw., als auch auf den Hapag-Lloyd-Schiffen, weil sie sehr wohlschmeckend und auch sehr gut lagerbar war. Der Anbau war jedoch sehr aufwendig. Die Original-Aufzeichnungen meiner Mutter Hildegard Paske geborene Gaidies aus Sussemilken/Friedrichsrode im Kreis Labiau zeigen uns auf, auf welche Weise damals gearbeitet wurde. Undenkbar in der heutigen Zeit. – Der Leser wird viele unbekannte oder vergessene Ausdrücke lesen, die an eine längst vergangene Zeit erinnern.

Fortsetzung aus PAZ 19/12. Mai 2022



Der Sommer stellte die Kartoffelbauern vor vielfältige Herausforderungen. Die Männer leisteten dabei die schwerere Arbeit des Furchenstechens. Die Kanten der Kartoffelrücken waren voller Unkraut, das aussah, als wäre es gesät. Für das Abstechen der Kanten und Unterkippen des Unkrauts wurden in den meisten Fällen aus alten Sensen hergestellte Kantenstecher benutzt, die an Stielen befestigt waren. Damit fuhr man an den Kanten entlang und kippte den Boden gleichzeitig um. Es war zwar eine mühselige Arbeit, doch ging sie schnell. 

Blüten so weit das Auge reicht

Nun konnte die Kartoffel blühen. War das eine Pracht, über die Felder zu schauen. Die weißen Blüten in dem dunklen Grün der Blätter, die am Morgen, wenn die Sonne erwachte und sich einen Weg durch die Nebelschwaden bahnte, wie Silber schimmerten, um dann in ein Jadegrün überzugehen. Die Frühkartoffel, die Blaublanke, hatte rosarote Blüten. Der Duft zog durch das ganze Dorf. Beschreiben kann man ihn nicht, aber ich glaube, wir Moosbrüchler haben noch alle den herben würzigen Duft in Erinnerung. Nun wurde noch einmal durch die Furchen gegangen, um das allzu hohe Unkraut zu entfernen, und man wartete dann, bis die Kartoffel reif zur Ernte war. 

Es hört sich alles sehr aufwendig an, weil die meiste Arbeit von Hand gemacht wurde, auch das „beruscheln“ wie beschrieben. Aber der Boden war bei uns als mehr oder weniger Torfboden so locker, dass man alles mit bloßen Händen machen konnte. Die Arbeit wurde zumeist knieend durchgeführt. 

Frühkartoffelernte

Nun war es auch schon soweit, dass die ersten Frühkartoffeln aus dem Boden wollten. Die Kirschen waren zum Teil auch schon reif. Dann gab es Kartoffelflinsen von den neuen Kartoffeln und Kirschsuppe. Doch nun zur Kartoffellese. Zwei Frauen, drei Körbe. Einer vorne, zwei hinterhergezogen. Auf jede Seite der Rücke eine Frau und nun die großen Kartoffeln in den einen der hinteren Körbe, die kleinen Schweinskartoffel in den anderen und die mittleren in den vorderen. Zum Graben wurde ein „Ment“ benutzt. Das war ein aus Holz gefertigter flacher Art Löffel, damit stach man hinter die Staude und holte die Kartoffeln aus dem Boden. Die vollen Körbe wurden vom Bauern mit einer „Ped“ zusammengetragen und in einen Kastenwagen geschüttet. Der Wagen war schon für den Kartoffelverkauf vorbereitet, der dann in Insterburg oder Labiau stattfand. Die anderen Dörfer brachten ihre Kartoffeln mit dem Kahn nach Königsberg. Diese Reise, die mehrere Tage in Anspruch nahm, bedeutete schon ein großes Erlebnis für die Beteiligten. Denn vielfach mussten lange Strecken mit Rudern und Treideln überbrückt werden, bevor man sich bei einem Schlepper anhängen konnte. Es handelte sich im übrigen um einen Kahn, der mit einem „Denne“ abgedeckt war (Lukendeckel) und bis zu 100 Zentner Kartoffeln fasste. Vorne war die Kajüte, wo auch geschlafen wurde und hinten die kleine für die Verpflegung usw. Die Kartoffeln wurden in Königsberg und natürlich auch anderweitig vorwiegend nach „Fieflieter“ und „Halfschepel“ oder „Schepel“ verkauft. Die Rückfahrt war dann einfacher, weil der Kahn auch leichter zu manövrieren war. Ein gerne gesehenes Mitbringsel waren dann „de Hutzels“ auf vornehm „Kooke“ (Kuchen). Es tönte durch das Dorf aus Kindermund „se koame, se koame“, wenn der Kahn dann am Bollwerk anlegte. Die Verkaufsfahrt mit dem Pferdewagen – die ich nach Insterburg auch mitgemacht habe – war einfacher. Jeder Wagen hatte in der Stadt seinen Stammplatz und meistens auch schon Stammkunden. Man hörte an jeder Ecke den Ruf: „Kartoffelkes, scheene blanke Kartoffelkes“. In kurzer Zeit war dann der Wagen leer. In den späteren Jahren hörte dann diese „Romantik“ auf, weil die Kartoffeln dann schon vom Händler in großen Mengen aufgekauft wurden und nur zum Bollwerk gebracht werden mussten. 

Das abgeerntete Feld war dann für uns Kinder der Sportplatz. Es nahte ja das große Schul-Turnfest und wir übten auf den Rücken dann Weitsprung. Aber die Freude währte nicht lange, weil jetzt das Land mit „Runkel“ und „Bruke“ bepflanzt wurde. Das war dann auch das letzte, was das Land in einem Jahr aufnehmen musste. Derweil wuchsen die Spätkartoffeln auf ihren Feldern heran.

Ernte – mit Ment und Kebesch

Mitte August hatten wir schon den Herbstnebel und somit dann auch Bodennässe. Das Kartoffelkraut war zwar trocken, aber zum Leidwesen aller Beteiligten das liebe Unkraut nicht. Das war nicht nur besonders nass, sondern saß auch noch am Ende der Rücken sehr fest und musste mit dem Kebesch gerissen werden.

Bei der Ackerbesichtigung stellte man fest, dass die Spätkartoffel nun soweit war, dass sie geerntet werden konnte. Man zog an abgetrocknetem Kartoffelkraut. Blieb die Kartoffel im Boden, war sie erntereif. Das Herbstwetter war gut, das Kartoffelkraut schon abgetrocknet, die große Ernte konnte beginnen. Es wurden also wieder Frauen zusammengerufen, nach Möglichkeit so viele, dass fünf Rücken besetzt werden konnten. Mit Ment und Kebesch, Männerhosen und dickem Gummi-Knieschutz aus Gummireifen gebastelt, so erschienen sie dann am frühen Morgen schon in bester Stimmung. Meistens waren es sechs bis acht Frauen, also für drei bis vier Rücken. Je mehr, desto besser, es wurde dann auch was geschafft. Zum Schutz der Finger trugen sie meistens handgenähte Fingerlinge aus Nessel oder Leder übergezogen. Der große Moorwagen mit seinen Walzenrädern, „Puffwagen“ genannt, wurde mit vielen Körben beladen und die Arbeit konnte beginnen. Nach dem Motto: „Met dem Ment en de Hand kreppst du eawer dat ganze Land“ ging es wieder auf Knien an die Ernte. Es wurde wiederum gleich in drei Körbe sortiert, jetzt große, kleine und Saatkartoffeln. 

Ein Teil der Kartoffeln und die Saatkartoffeln wurden gleich eingemietet. Der Bauer bereitete die „Rußestell“ vor, indem er von zwei Rücken den Boden zur Mitte schaufelte und festtrampelte. Dieses erfolgte einmal für die großen Esskartoffeln und einmal für die Saatkartoffeln.

Es wurden dann die Kartoffelkörbe zusammengetragen und zu einer langen Miete aufgeschüttet. Die war etwa 1,20 Meter breit, 70 Zentimeter hoch und bis zu 20 bis 30 Meter lang. Die Länge richtete sich nach dem Winterbedarf der Familie. Jeden Abend wurde die Kartoffelmiete mit Stroh oder Streu abgedeckt und mit Erde beworfen und zum Spätherbst winterfest gemacht. Also mit sehr viel Moorerde beworfen, meistens bis zu einem Meter dick. Die kleinen Schweinskartoffeln und die Kartoffeln zum Verkauf usw. wurden mittags oder abends mit nach Hause gefahren und dort zusammengeschüttet.

Rapetschkes und Feldmäuse

Die Frauen waren im vollen Einsatz. Eine schlimme Zeit für die vielen Feldmäuse, deren Nester zerstört wurden. Aber auch eine willkommene Unterbrechung für die Frauen, konnten sie doch aufstehen und weglaufen. Nicht weil sie Angst hatten, aber die müden Knie wollte man ja auch mal strecken. Auch Rapetschkes (Kröten) gab es nicht wenige, die in ihrer Tarnung wie schorfige Kartoffel aussahen. Angst durfte man nicht zeigen, sonst war man ja bei den anderen Frauen arm dran, die dann keine Hemmungen hatten, einem mit diesen lieben Tierchen einen Schabernack zu spielen. Diese Tiere gab es in großen Mengen. Ich habe noch nirgendwo so viele Kröten gesehen wie bei uns auf dem Moosbruch. 

Endlich Pabentuwis!

So ging es dann eine Rücke rauf und die andere runter, wobei erzählt, gelacht und gescherzt wurde. Anpassung war aber alles, so war es in der Dorfgemeinschaft. Die erste Pause am Kleinmittag wurde begrüßt und das Mitgebrachte verzehrt. Wenn die Sonnche schien, war es ja gut, aber bei Regenwetter hat man mit Sehnsucht die Mittagspause oder den Abend erwartet. Bis zum Mittag war aber schon sehr viel geschafft, das Essen redlich verdient und auch die Mittagsstunde, wo jeder sein müdes Haupt irgendwo hinlegte und die Ruhe genoss. Sogar der Hofhund bellte nicht. Mit neuem Mut und frischer Kraft ging es dann wieder weiter, Rückauf – Rückab, unterbrochen von der Vesperzeit, wobei es dann Fladen und viel Malzkaffee gab. Spaß hatten die Frauen auch, wenn sie in der Mittagspause einer anderen Person, die in der Hitze des Tages – die Herbsttage konnten bei uns noch sehr heiß sein – eingeschlafen war, mit einem Eimer Wasser „bepukschen“ konnten, meistens war es dann der Freund oder die Freundin. Diese Schlacht artete einmal so aus, dass mich meine Brüder in die volle Regentonne gesteckt haben. Es wurde dabei nichts krumm genommen. 

Endlich Pabentuwis

Das Kartoffelgraben ging über mehrere Tage, bis der letzte Rest abgeerntet war. Tagein, tagaus, war das eine Freude, wenn dann der Bauer am letzten Tag meinte „Na Frukes, wat meent ju, jeft dat hiede Pabentuwis?“ Das war das Zeichen, sich noch mal besonders anzustrengen damit man am Abend fertig war. Man sagte dann auch: „de Fruens riete ober doll!“

 „Pabentuwis“. Das war dann der Abschluss aller Feldarbeiten und ein Dankeschön an alle Helfer mit „Meschkinnes“, „Glühwürmchen“, Fladen usw. Zur Einstimmung machte dann die Flasche Meschkinnes – selbst gebraut versteht sich – die Runde „über den Daumen“, so ein oder zwei Mal wurden die letzten Lebensgeister geweckt. Mit Juhu und viel Lärm wurden die letzen Meter Erde umgegraben, um die letzten Kartoffeln ans Tageslicht zu bringen, und singend und lachend ging es nach Hause, wo schon der Abendbrottisch fertig und die Flasche Danziger Goldwasser, Meschkinnes oder ein anderer Likör, je nachdem was es für Extrakte in der Drogerie in Lauknen gab, bereit stand. Im Krieg gab es bei uns diese geistigen Getränke aus der eigenen (Schwarz-)Brennerei. War das eine fröhliche Runde, einer wusste mehr Wippchens als der andere. Es gab auch ein altes Trichtergrammophon, unzählige Male wurde die Schellackplatte „Male, Male“ abgespielt, oder es wurde auch auf dem Kamm geblasen und getanzt „dat de Pogge quarre“. So manch eine oder einer hatte dann „de Schlorre voll“. 

Kebetschen – Kinderspaß

Nach dem „Pabentuwis“ begann für die Kinder das „Kebetschen“. Nach der Schule bewaffneten sie sich mit der Karre, Korb, Sack und dem „Kebetsch“, einer Art „Misthaken“ mit breiten Zinken und langem Stiel. Nun buddelten sie das ganze Land noch einmal durch nach übersehenen Kartoffeln. Diese durften sie dann verkaufen und das Geld für sich behalten. Na, war das ein Anreiz, 6 bis 8 Reichsmark für einen Zentner? Manchmal kebeschten sie auch, wenn niemand es sah, an der noch nicht abgedeckten Ruß, aber nur aus Versehen. Etwa absichtlich? I wo, natürlich nicht! 

Erntefest op dem Palnus

An den darauf folgenden Tagen wurden das Kartoffelkraut und das Unkraut, das mittlerweile auch vertrocknet war, zusammengeharkt und verbrannt. Kartoffelfeuer – das war ein Ereignis, besonders für die Kinder. Ein großer Spaß war dabei, alles mögliche über der offenen Flamme zu rösten. 

Der Herbst ging langsam in den Winter über. Die Kartoffeln wurden aus den Behelfsrußen geholt und in die Nähe der Häuser gebracht, um dort winterfest eingerußt zu werden oder um sie für die Ablieferung zum Verkauf vorzubereiten. Die Kartoffelhügel, bedeckt mit dem schwarzen oder roten Moor, bildeten dann einen romantischen Kontrast zu dem Weiß der Birkenstämme, deren Laub schon den Weg des Vergänglichen angetreten hatte. Der einsetzende Regen versetzte die Landstraßen in reine Modderlandschaften und die Fuhrwerke mit den abzufahrenden Kartoffeln taten ein Übriges, um die Wege fast unpassierbar zu machen. Wir dachten mit Schrecken daran, wie wir wohl mit dem Fahrrad zu Schipporeit nach Schenkendorf ins Kino kommen sollten. Die Fuhrwerke fuhren entweder nach Schargillen zur Bahn oder zur Anlegestelle nach Eversdorf mit ihrer schweren Last. Die Kartoffelsäcke wurden dort Sack auf Sack gestapelt, um den langen Weg zum Verbraucher anzutreten. Die lange mühsame Arbeit des ganzen Jahres soll nun ihren Lohn bringen. Würde es reichen, mit dem Erlös gut bis zur nächsten Ernte durchzukommen?

Mit dem ersten Frost wurden die Rußen noch einmal beschmissen, also noch einmal Erde drauf, damit die Saat dem kommenden Frühjahr entgegen ruhen konnte und der Kreislauf wieder beginnt. Teilweise wurden die Saatkartoffeln auch unter den Böden im Haus eingelagert.


Als meine Mutter vor vielen Jahren diese Aufzeichnungen anfertigte schrieb sie: „Das Rad dreht sich wie die vier Jahreszeiten. Nun ist seit 1945 der Kreislauf beendet. Wirklich beendet oder nur unterbrochen? Für uns, für unsere Kinder, für unsere Enkelkinder? Oder welche Generation wird den Kreislauf wieder aufnehmen?“ – Sie ist dann ab 1991 häufig in ihrer Heimat gewesen und musste realisieren, dass von dem geliebten Heimatort außer Natur nichts blieb.