26.04.2024

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Folge 42-22 vom 21. Oktober 2022 / Publizistik / Wo Preußen weiterlebt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-22 vom 21. Oktober 2022

Publizistik
Wo Preußen weiterlebt
René Nehring

Als die alliierten Siegermächte am 25. Februar 1947 die Auflösung des Staates Preußen verkündeten, blieb dieses Ereignis in Deutschland weitgehend ohne Widerhall. Die geschlagenen Deutschen hatten mit sich und ihren alltäglichen Nöten genug zu tun und keine Zeit, sich mit einem Staat zu befassen, der faktisch schon vom vorherigen „Dritten Reich“ abgeräumt worden war. 

Als die Deutschen dann nach und nach wieder auf die Beine kamen und gelehrige Geister die Zeit fanden, über die verschiedensten Wege und Irrwege der Nation in den Jahrzehnten zuvor nachzudenken, rührte sich bis auf ganz wenige Angehörige alter preußischer Familien kaum jemand, der noch für eine Neubegründung Preußens – das immerhin den modernen deutschen Nationalstaat begründet hatte – plädierte. Preußen war und blieb Vergangenheit, und wo man noch darüber nachdachte, ging es allenfalls um die Frage, wann genau der Staat in ebendiese Vergangenheit entschwunden war: mit der Gründung des Kaiserreichs 1871, als Preußen in Deutschland aufging, oder mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Abdankung Wilhelms II. oder mit dem „Preußenschlag“ in der Weimarer Republik oder mit der Gleichschaltung der deutschen Länder durch die Nationalsozialisten und der Ersetzung durch Gaustrukturen – oder nicht doch erst mit dem formellen Auflösungsbeschluss der Alliierten? 

Und doch entwickelte sich im Laufe der Zeit ein nicht unerheblicher Bereich des öffentlichen Lebens, in dem Preußen fortbestand, als hätte es seine Auflösung nie gegeben – die Publizistik. Egal, ob Herrscherbiographie oder persönliches Erinnerungsbuch über die verlorene Heimat, egal ob kunsthistorische Abhandlung über ein Schloss oder Bildband über eine Region: Der Berg an Literatur über Preußen wuchs und wuchs, so dass er heute nicht mehr überschaubar ist. Offenkundig waren die – im Vergleich zu anderen Großmächten – wenigen Jahre Geschichte des preußischen Gesamtstaats von ungefähr 1640 bis 1945 ausreichend, um noch post mortem künftigen Generationen Stoff für eine vertiefte Befassung zu hinterlassen. 

Ein Quell unendlicher Geschichten

Besonders stark ist das Interesse an Preußen auf dem Gebiet der Wissenschaft. Noch immer bieten die zahlreichen Aspekte der Geschichte des Landes zwischen Rhein und Memel genügend Themen für immer neue Dissertations- und Habilitations- sowie Ausstellungsprojekte. So ist die auf den kulturellen Hinterlassenschaften des alten Preußen gegründete Stiftung Preußischer Kulturbesitz noch immer die größte Kultureinrichtung der Bundesrepublik Deutschland. Allein deren Sammlungen und Ausstellungen bieten ein schier unerschöpfliches Reservoir für die Beschäftigung mit Preußen. Dass ein Teil dieser Sammlungen in das neu errichtete Humboldt-Forum eingeflossen ist (siehe zu dessen Baugeschichte auch die Seiten 4–5), hat offenkundig Horizonte dafür geöffnet, dass Preußen und das von ihm gegründete Kaiserreich bereits globale Tendenzen verfolgten, lange bevor es das Wort „Globalisierung“ überhaupt gab. So lockte vor einigen Jahren schon die Ausstellung über die Ausgrabungen des Tell Halaf in Syrien durch Max von Oppenheim rund 780.000 Besucher auf die Berliner Museumsinsel. 

Im ebenfalls dort gelegenen Ägyptischen Museum startete dieser Tage die Ausstellung „Abenteuer am Nil. Preußen und die Ägyptologie 1842–45“. Die dazu im Kulturverlag Kadmos erschienenen Begleitbücher – zum einen der Katalog (siehe Seite 8), zum anderen das erst 2003 in Australien wiederentdeckte Expeditionstagebuch des Zeichners und Malers Max Weidenbach – gehören zu den inhaltlich spannendsten und optisch schönsten Neuerscheinungen dieses Bücherherbstes. 

Einen gänzlich anderen, klassischen Blick auf Preußen wirft die Studie „Ein Lehrer auch an der kleinsten Schule“ von Dietmar Roglitz, die am Beispiel des Schulaufsichtsbezirkes Penkun die Elementarschulreform in der preußischen Provinz Pommern von 1763 bis 1872 untersucht. Die Arbeit, deren Titel auf den ersten Blick vielleicht etwas dröge klingen mag, untersucht auf lokaler Ebene das preußische Bildungswesen und belegt so exemplarisch den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsstand des Hohenzollernstaates im 19. Jahrhundert, als wirklich bis in die entlegensten Winkel des Landes hinein jedes Kind lesen und schreiben konnte (was selbst in vermeintlich höher entwickelten Kulturnationen jener Zeit längst nicht der Fall war). 

Einen zentralen Aspekt preußischer Geschichte untersucht die von Manfred Kittel, Gabriele Schneider und Thomas Simon herausgegebene Arbeit über Preußens Osten in der Weimarer Republik. Mit zunehmender Distanz zu den historischen Ereignissen hat – leider bis in höchste Kreise der historischen Wissenschaft hinein – in den vergangenen Jahrzehnten die Legende Verbreitung gefunden, dass Preußen ein Hort der Reaktion und fast so etwas wie ein direkter Vorgängerstaat des „Dritten Reichs“ gewesen sei. Kittel et al. zeigen nun, dass der größte Gliedstaat der Weimarer Republik ein weitaus konsequenteres parlamentarisches Regierungssystem etabliert hatte als das Reich, womit sich Preußen nach 1918 zu einem wichtigen Bollwerk der Republik entwickelte. Die Gründe für „Weimars“ letztliches Scheitern lagen nicht in Preußen. Selbst der ostelbische „rechte preußische Lungenflügel“ hielt dem Ansturm der braunen Demokratie-Feinde weitaus länger stand als andernorts. Neben Blicken auf Verfassung, Identität und Baukultur des preußischen Gesamtstaates bis zum „Preußenschlag“ 1932 werden hier die bunten politischen Verhältnisse von den teils gutsherrschaftlich und meist „nationalprotestantisch“ geprägten Gebieten Ostpreußens und Hinterpommerns bis hinein in die katholische Indus-trieregion Schlesiens beleuchtet. 

Preußische Kommissare

Eine gänzlich andere Perspektive auf die preußische Geschichte hat sich in den vergangenen Jahren auf dem Gebiet der Belletristik etabliert. Seit Tom Wolf vor über zwanzig Jahren mit „Königsblau. Mord nach jeder Fasson“ im Be.bra-Verlag seinen ersten „Preußen-Krimi“ vorlegte, erfreuen sich diese besonderen Geschichtserzählungen einer anhaltend hohen Beliebtheit. Die vermutlich bekanntesten sind, obwohl die wenigsten Leser sie als Preußen-Geschichten wahrnehmen dürften, die Fälle rund um den aus Köln stammenden, im Berlin der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre ermittelnden Kommissar Gereon Rath. Hauptthema dieser von Volker Kutscher verfassten Romane ist der schrittweise Niedergang der Weimarer Republik und das Aufkommen des Nationalsozialismus. Doch dahinter gibt es – etwa in den Äußerungen der als bekennende Preußin und Sozialdemokratin geschilderten Ehefrau Charlotte („Charly“) des Kommissars – immer wieder klare Bekenntnisse zum demokratischen Charakter Preußens, das regelmäßig als Gegenentwurf zur braunen Diktatur gezeigt wird. Teil 9 der Reihe erscheint unter dem Titel „Transatlantik“ am 27. Oktober.  

Ein paar Jahre vorher angelegt ist die Geschichte um den Weg des Gauners Felix Blom vom Moabiter Häftling zum Meisterdetektiv. 1878 wird dieser nach drei Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen. Als „Ex-Knacki“ kennt er alle Tricks seiner vormaligen Berufskollegen und bringt nun Berlins Verbrecher ins Schwitzen. Ob Blom ähnlich lange ermitteln wird wie der Kölner Rath, wird man sehen. Wenn es nach Bestseller-Autorin Alex Beer geht, ist der erste Fall Bloms nicht sein letzter. 

Zeitlich noch weiter zurück gehen die Fälle um den Berliner Kommissar Wilhelm von der Heyden. Der von Autor Ralph Knobelsdorf entwickelte Ermittler führt die Leser zu den Anfängen der preußischen Kriminalpolizei im Berlin des 19. Jahrhunderts. Nach dem ersten, im vergangenen Jahr erschienenen Fall „Des Kummers Nacht“ erscheint nun schon der zweite Band „Ein Fremder hier zu Lande“, in dem ein Serienmörder im Rotlichtmilieu umgeht und den Bürgern der damals noch beschaulichen Residenzstadt Angst und Schrecken einjagt. 

Zugegeben: Ambitionierte Bildungsbürger werden vermutlich den zuletzt genannten Titeln kaum etwas abgewinnen können, manche mögen sogar darüber schmunzeln oder gar die Nase rümpfen. Und doch zeigen gerade diese Bücher, dass die Geschichte Preußens noch lange nicht zu Ende erzählt ist. Und die Resonanz der Leser zeigt, dass auch das Interesse an Preußen beim Publikum noch lange nicht erloschen ist.

Susanne Binder (Hrsg.) 

Auf ins Land am Nil. Das Expeditionstagebuch des Max Weidenbach 1842–1845 Kulturverlag Kadmos 2022 

Dietmar Roglitz

Ein Lehrer auch an der kleinsten Schule. 

Elementarschulreform in der preußischen Provinz Pommern am Beispiel des Schulaufsichtsbezirkes Penkun 1763–1872 Böhlau 2022

Manfred Kittel / Gabriele Schneider / Thomas Simon Preußen und sein Osten in der Weimarer Republik Duncker & Humblot 2022

Volker Kutscher Transatlantik. Der neunte Rath-Roman Piper 2022 

Alex Beer Felix Blom. Der Häftling aus Moabit Limes Verlag 2022

Ralph Knobelsdorf Ein Fremder hier zu Lande. Ein neuer Fall für Wilhelm von der Heyden Bastei Lübbe 2022