28.03.2024

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Folge 42-22 vom 21. Oktober 2022 / Literaturherbst 2022 / Als Deutschland und Preußen modern wurden / Dem Deutschen Kaiserreich wird von Kritikern mitunter vorgehalten, ein Staat der Reaktion gewesen zu sein. Ein opulenter Band zeigt dagegen mit eindrucksvollen Bildern, dass Preußen und Deutschland in jener Zeit lediglich ihren eigenen Weg in die neue Zeit gingen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-22 vom 21. Oktober 2022

Literaturherbst 2022
Als Deutschland und Preußen modern wurden
Dem Deutschen Kaiserreich wird von Kritikern mitunter vorgehalten, ein Staat der Reaktion gewesen zu sein. Ein opulenter Band zeigt dagegen mit eindrucksvollen Bildern, dass Preußen und Deutschland in jener Zeit lediglich ihren eigenen Weg in die neue Zeit gingen
Eberhard Straub

Während des sogenannten wilhelminischen Zeitalters erlebten die Deutschen ihr erstes umfassendes Wirtschaftswunder. Unter dem Eindruck der monarchischen Repräsentation mit ihrer Pracht und den historistisch verspielten Fassaden öffentlicher wie privater Gebäude wird oft vergessen, dass Schöngeister um 1900 sich vor der stürmischen „Amerikanisierung“ Deutschlands fürchteten, die das lärmende Berlin mit seinem Stolz auf den Verkehr und das Tempo als neues Lebensgefühl für sie veranschaulichte. Amerikanisierung meinte für sie das Aufgehen in einer Massenzivilisation, die nur noch an Komfort, Wachstumsraten, Gewinnmaximierung, Export und Konsum dachte. Zusammen mit den USA war das Deutsche Reich die dynamischste Wirtschaftsmacht, weltweit verflochten, ohne Furcht vor Globalisierung und internationaler Zusammenarbeit in Europa. 

Epoche eines rasanten Aufstiegs und Wohlstandsgewinns

Die Grundlagen für diese rasante Entwicklung wurden indes schon lange vorher gelegt. Am Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die deutschen Staaten von 1792 bis 1815 dauernd von Franzosen – erst von Republikanern, dann vom Soldatenkaiser Napoleon – in Kriege verwickelt, besetzt und ausgeplündert. Sie waren arm, und es dauerte lange, bis sie sich wieder erholt hatten. Sie mussten aus ihrer Armut, aus der Not eine Tugend machen, nämlich die vor allem in Preußen ostentativ gepflegte Bescheidenheit. Gegen Ende des Jahrhunderts waren sie jedoch reich geworden, „neureich“ wie die Amerikaner, und genossen es, den anderen zeigen zu können, nicht mehr knauserig sein zu müssen, sondern Geschmack an luxuriöser Verschwendung gefunden zu haben. 

Dieser Epoche, der Geschichte der zunächst allmählichen und dann stürmischen Industrialisierung, widmen sich am Beispiel Preußens, das wegen des Zollvereins die übrigen deutschen Staaten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts dynamisierte, Andreas Bödecker und Helga Tödt in ihrem Buch „Spione – Erfinder – Unternehmer. Preußens Industrialisierung in Lebensbildern“.  

Mit Lebensbildern veranschaulichen sie diese Entwicklung. Geschichte und Wirtschaftsgeschichte hängen mit überpersönlichen Strukturen zusammen. Aber es sind immer Menschen, die sich in ihnen bewegen, sich ihrer Möglichkeiten bedienen und sie darüber verändern. Der technisch-wissenschaftliche Geist durchdrang in dieser Zeit alle Gebiete produktiver Tätigkeiten. Insofern vermitteln die konkreten Beispiele der kombinierenden Phantasie und des unternehmerischen Ehrgeizes in Preußen einen Eindruck von der schöpferischen Wechselbeziehung zwischen individueller Energie und kollektiver Bedingtheit. 

Die Skepsis des alten Goethe 

So entsteht ein Epochenbild vom gesamten Leben – von der Ernährung bis zur Beschleunigung sämtlicher Lebensrhythmen aufgrund neuer Verkehrs- und Produktionsmittel wegen der Motorisierung und Elektrifizierung, die in alle Lebensgewohnheiten eingriffen. Der späte Goethe beobachtete schon um 1826 „das größte Unheil unserer Zeit“, was spätere Generationen Amerikanisierung nannten: nichts mehr reif werden zu lassen unter dem Druck der nicht zu dämpfenden Dampfmaschinen, der Lebhaftigkeit des Handels, des Durchrauschens des Papiergeldes, des Anschwellens der Schulden, des Zeitmangels, weil alles immer schneller gehen soll und endlich nervös von Weltteil zu Weltteil springt. 

Goethe nannte das „velociferisch“, eine dämonische Bewegung, die „velocitas“, die Geschwindigkeit, und Lucifer verbindet, der sich gegen Gott und eine wohl proportionierte Ordnung empörte. Julius Langbehn erweiterte 1890 solches Unbehagen in seinem Buch „Rembrandt als Erzieher“ zu einer ausschweifenden Zeit- und Kulturkritik, die zur Umkehr mahnte, um sich aus der die Natur, den Menschen und seine Umwelt zerstörende Zwängen des sich überstürzenden Zeitverschlingen zu lösen. Der Berliner um 1900 rief allerdings begeistert, mit der Uhr in der Hand: Keine Zeit! Keine Zeit! Keine Zeit! 

Der Inbegriff des raschen, stets neugierigen Berliners war der Kaiser. Er schwärmte für schnelle Schiffe, für Luftschiffe und Automobile und verstand das anbrechende 20. Jahrhundert als Jahrhundert des Verkehrs. Er konnte mit Ingenieuren wie ein Kollege reden. Das neue Jahrhundert werde nicht durch den Geist, sondern durch die Wissenschaft und Technik bestimmt. Darin ist der Deutsche groß, wie er 1902 feststellte, groß aber auch in seiner Organisierungs- und Disziplinfähigkeit. Disziplin, also technisch-maschinelle Funktionstüchtigkeit, ist die Voraussetzung dafür, dass sich Deutsche einen Platz an der Sonne im globalen Wettbewerb sichern und ihn behaupten konnten. 

Technische Hochschule der Welt

War Deutschland im 19. Jahrhundert die Universität der Welt, so wurde es zu Beginn des 2o. Jahrhunderts nun zu deren Technischer Hochschule, zu deren Werkbank und überhaupt zum Laboratorium für eine neue Welt und eine schönere Zukunft. Die enge Zusammenarbeit von Wissenschaft und Industrie, von praktischer Weltvernunft und geistiger Feinmechanik sowie der unruhigen Tüftelei gab den Deutschen auf allen Gebieten einen Schwung, der es ihnen erlaubte, ihre internationalen Konkurrenten zu deren Verdruss zu überfliegen. Werner von Siemens oder Friedrich Bayer, der Chemiker in Leverkusen, oder Heinrich von Stephan, der das Postwesen revolutionierte und im Weltpostverein global organisierte, diese Persönlichkeiten, an die das Buch von Bödecker und Tödt erinnert, waren ja keine geistlosen Techniker oder schlaue Unternehmer, sondern philosophisch geschulte Humanisten, die an eine praktische Verbesserung der Lebensumstände dachten, um Zeit und Muße jedem zu verschaffen, seinen inneren Menschen auszubilden. 

Ein eigener Weg in die Moderne 

Ganz ohne Idealismus ging es eben nicht bei der Absicht, mit Hilfe der Technik und des Fortschritts dem Menschen am Beginn der Moderne neue Freiheiten und Entfaltungsräume zu ermöglichen. Das Deutsche Reich und sein führender Staat Preußen standen nicht abseits von der Moderne, sondern ganz im Gegenteil, war hier alles „veloziferisch“ geworden, selbst die Philosophen und Soziologen durften nicht rasten, dazu genötigt, diese schnelllebige Zeit zu begreifen und deren Zukunft zu deuten. 

Andreas Bödecker und Helga Tödt vertrauen in ihrem opulenten Band auch auf die Kraft der Bilder. Diese dokumentieren in großer Wahl, wie Wissenschaft und Technik den Alltag umgestalteten, bequemer machten und zugleich mit dem Ethos der Leistung und Verantwortung von jedem Einzelnen viel verlangten, ihn von sich ablenkten und auf das Wohl des Vaterlandes oder der Nation verpflichteten, auf ein gemeinsames Wollen, das jedem einzelnen Willen die Richtung wies.

Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehören „Kaiser Wilhelm II. Die Erfindung des Reiches aus dem Geist der Moderne“ (Landt Verlag 2012) sowie „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (Klett-Cotta 2014).www.eberhard-straub.de





Bilder einer Epoche 

Andreas Bödecker und Helga Tödt

Spione – Erfinder – Unternehmer. Preußens Industrialisierung in Lebensbildern  be.bra verlag 2022, gebunden, 640 Seiten mit 466 Abbildungen, ISBN 978-3-89809-211-1, 28 Euro