27.04.2024

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Folge 42-22 vom 21. Oktober 2022 / Literaturherbst 2022 / Am Ende der deutschen Welt / Ein historischer Streifzug entlang der Memel, wo auch Jahrzehnte nach den großen Brüchen von Diktatur und Krieg, Flucht und Vertreibung die Spuren der Vergangenheit noch zeitlos präsent sind

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-22 vom 21. Oktober 2022

Literaturherbst 2022
Am Ende der deutschen Welt
Ein historischer Streifzug entlang der Memel, wo auch Jahrzehnte nach den großen Brüchen von Diktatur und Krieg, Flucht und Vertreibung die Spuren der Vergangenheit noch zeitlos präsent sind
Hermann Pölking

Ostpreußen ist in die Geschichte entschwunden. In seinem heutigen russischen Teil südlich der Memel ist wenig bäuerliches Kulturland erhalten geblieben. Der Besucher muss sich hier in einem anderen Landschaftsbild die deutsche Vergangenheit imaginieren. Im polnischen Teil überlagern oft acht Jahrzehnte polnischen Lebens die Spuren. Im litauischen Teil, dem schmalen Streifen Memelland längs der Memel und seinen Mündungsarmen, verströmt die Landschaft Zeitlosigkeit. 

Bis 1919 hieß der nördlichste Punkt des Deutschen Reichs Nimmersatt. Zu diesem direkt am Strand der Ostseeküste gelegenen 399-Einwohner-Dorf, in dem Bauern, Fischer, Gastronomen und Zöllner lebten und in dem es lange Zeit eine „Immersatt“ genannte Gaststätte gab, gelangte man durch eine sandige Wald- und Heidelandschaft mit kargen Äckern und endlosen Dünengebirgen. „Nimmersatt und Immersatt, wo das Deutsche Reich ein Ende hat“, war ein Merksatz im Geografieunterricht des deutschen Kaiserreichs. In den 1930er Jahren verirrten sich nur wenige Urlauber hierher. 

Noch 1936 stellte der Schriftsteller Ernst Wiechert fest: „Hier ist das Ende der deutschen Welt.“ Aus Sand also bestand diese – so Wiechert – „östlichste deutsche Erde“. Hier war Wiechert geografisch nicht ganz korrekt. Es war die nördlichste. Denn östlicher lagen im Deutschen Reich noch die Grenzdörfer des ostpreußischen Kreises Pillkallen. Wenn nicht mit Geografie, so doch mit Sand kannte sich der Masure Wiechert aus. Seiner ostpreußischen Heimatprovinz war der Zipfel Memelland aber seit 1920 nicht mehr zugehörig. 

„Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ – das war das Programm einer deutschen Nationalbewegung. Anders als Maas und Etsch war die Memel ab 1871 auf 112 Kilometer Teil eines geeinten Deutschlands. Von 1871 bis 1920 reichte dieses Deutschland sogar noch ein gutes Stück über die Memel hinaus in das weite flache Land bis an die russische Grenze – weitere 2.416 Quadratkilometer! Von der benachbarten litauischen Provinz des Zarenreichs trennte das deutsche Ostpreußen eine „grüne“ Grenze, nur markiert von Grenzsteinen. Erst durch Beschluss der Konferenz von Versailles wurde die Memel 1920 tatsächlich ein deutscher Grenzfluss. 

Die „Entstehung“ des Memellandes

Das Land nördlich der Memel wurde für zwei Jahre als „Territoire de Memel“ ein Freistaat unter der Oberhoheit des Völkerbundes. Erst so entstand ein „Memelland“ – ein Begriff, den in Jahrzehnten zuvor niemand verwendet hatte. Das staatliche Konstrukt war ein 140 Kilometer langer Streifen, der an seiner breitesten Stelle – ohne Haff und Nehrung – nicht mehr als 20 Kilometer maß. Das „Memelgebiet“ war damit fünf Prozent kleiner als das heutige Saarland. Es hatte fast 142.000 Einwohner und damit in etwa so viel wie 1936 der Stadtstaat Freie und Hansestadt Lübeck. 1923 okkupierte die Republik Litauen das Memelgebiet; heute weiß man, wohl mit Zustimmung der demokratischen Regierung des Deutschen Reichs. Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges zwangen Litauen einen Autonomiestatus des Gebiets auf, der der zu 90 Prozent deutschgesinnten Bevölkerung mal mehr mal weniger kulturelle und Selbstverwaltungsrechte gewährte. 

„Eine Reise vom Memelland nach Berlin war eine kleine Weltreise“, hielt der Schriftsteller, Kunstkritiker und Schauspieler Eugen Kalkschmidt 1947 in seinen Lebenserinnerungen fest, „sie dauerte im Personenzug volle vierundzwanzig Stunden.“ Kalkschmidt absolvierte in den 1890er Jahren eine Buchhändlerlehre in Tilsit. „Ausflüge über Land, mit Kind und Kegel, waren nicht beliebt, die Landschaft als solche war von der einheimischen Bürgerschaft noch nicht entdeckt, sie kannte sie nicht, aber sie missbilligte sie, weil sie nicht ‚hervorragend‘ war.“ 

„Hervorragend“ war damals wie heute nur wenig im flachen Land beiderseits der Memel. Bis 1920 traf zu, was Meyers Konversationslexikon 1892 notierte: „Die Memel (…) entspringt in Russland, tritt als ein schiffbarer Fluss bei Schmalleningken ins preußische Gebiet.“ Eugen Kalkschmidt sah den Fluss hier preußisch exerziert: „Er hat eine weite Reise hinter sich von Minsk, Wilna und Kowno her, es ging so glatt und lustig durch die dunklen Wälder, an den Sandbänken und Untiefen in Litauen vorüber. Doch nun an der Grenze bei Schmalleningken wird die Reise schwieriger. Hier beginnt die preußische Zucht, die Erziehung zu geregeltem und anständigem Lebenslauf. Hier engen die bewaldeten Moränenhügel den Willen des Stromes ein.“ 

Die preußische Zucht begann bis 1920 gleich hinter Schmalleningken, heute Smalininkai, im äußersten Osten des Memellandes. Ab 1923 gehörte auch Schmalleningken zu Litauen: Die Grenze zwischen Litauen und dem Deutschen Reich verlief jetzt in der Mitte der Memel.

Die Schönheit „Preußisch Litauens“

Die Memel und einige ihrer Verästelungen grenzen das Memelland geografisch und topografisch vom nördlichen Ostpreußen ab. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nannte man das Gebiet bedenkenlos „Preußisch Litauen“. Denn Preußen war zumindest bis zum Ende des Deutschen Bundes ein multinationaler Staat. „Litauische Heimat“ – noch 1922, im Erscheinungsjahr des Buches, verwendete Hermann Sudermann diese Formulierung als eine der ostpreußischen Geografie. Das heutige Litauen kennt kein „Memelland“ oder „Memelgebiet“. Für die Litauer ist das Gebiet heute noch „Kleinlitauen“, auch wenn in ihrem Verständnis „Kleinlitauen“ weit nach Süden über die Memel in den heutigen Oblast Kaliningrad greift.

Hermann Sudermann war um 1900 der meistgespielte deutsche Dramatiker und ein äußerst erfolgreicher Schriftsteller. Er stammte von dem beim Kreisort Heydekrug gelegenen Gut Matzicken. In seiner Autobiografie „Bilderbuch meiner Jugend“ pries er die Schönheit seiner Heimat und verglich sie mit der Exotik Afrikas und Asiens. „Mein Auge hat manches von den Wundern der Welt geschaut. Ich habe die funkelnde Gletscherwelt zu meinen Füßen sich breiten sehen, ich bin auf schaukelndem Kamel und mit dem Kompaß als Führer in den sandigen, granitdurchstarrten Unendlichkeiten der Libyschen Wüste umhergeirrt, ich bin auf dem Indischen Ozean gefahren wie die seligen Götter, und die grüne, triefende Dämmerung des tropischen Urwalds hat mir ihre Geheimnisse hergeben müssen. Aber das Schönste von allem hat mir meine arme litauische Heimat geboten.“ 

Ernst Wiechert empfahl seinen Lesern 1937, auf der Memel ein Holzfloß zu besteigen und so das Memelland zu bereisen. „Wer zu den Flößern hinabsteigt, kann hinausgleiten mit ihnen wie an den Rand der Welt. Gut ist es, still zu liegen auf dem duftenden Holz, die Hände unter dem Kopf verschränkt, und darüber zu treiben wie in den Bildern eines Traumes, an Wiesen und Haus, an Schilf und Moor, an Liedern und Schweigen. Sterne heben sich auf und sinken herab, der Sprosser schlägt aus dem Ufergebüsch und eine grundlose Schwermut hüllt dies alles ein, das Floß, den Strom, das Land.“

Schluchten am großen Bogen

Memelflöße aus den Tiefen Weißrusslands passierten nach 1920 kaum noch die Daubas, die bewaldeten Steilufer der Memel mit hügeligem Mischwald und Schluchten am großen Bogen zwischen dem Dorf Obereißeln und der Stadt Ragnit. „Daubas“ bedeutet in der deutschen Übersetzung „Schlucht“. Hier war und ist das Land an der Memel dank einer Endmoräne etwas „hervorragend“. Von diesem Landschaftserlebnis aus Kindheit und Jugend sind der Roman „Litauische Claviere“ und zahlreiche Gedichte des in Tilsit geborenen Autors Johannes Bobrowski geprägt. Nördlich der Memel, im damals teilautonomen litauischen „Memelgebiet“, verbrachte Bobrowski zwischen 1929 und 1939 seine Ferien. Noch zwei Jahrzehnte später gestand der Autor, jetzt im Ost-Berliner Stadtteil Friedrichs-hagen lebend: „Jeder meiner Träume hat diese Landschaft zum Schauplatz.“

Bei Kallwen, acht Kilometer unterhalb von Tilsit, teilt sich die Memel in ihre Hauptarme Gilge und Ruß und verliert damit ihren Namen. Sie mäandert in einem großen Delta dem Meer entgegen. Einer ihrer Arme, der Gilgestrom, nimmt hier seinen Weg nach Südwesten in die Elchniederung, während der Rußstrom in nordwestlicher Richtung dem Kurischen Haff zustrebt. Das Flusssystem der Niederung schaffte so ein reiches Bauernland mit satten Wiesen, geschlossenen Waldflächen und Mooren. „Es ist ein gar merkwürdiger Strich Landes“ schrieb der „Richter und Dichter“ Ernst Wichert über diese Landschaft in den 1860er Jahren. „Der Nemonien, die Gilge, die Ruß sind selbst breite Ströme, und durch das Flachland zwischen ihnen ziehen sich in großer Zahl andere Wasserläufe, teils ebenfalls in das Haff einmündend, teils jene miteinander verbindend, teils mit breitem Anlauf sich abzweigend und plötzlich in einem Schilfsee stagnierend.“ 

Ein Hauptarm der Ruß teilt sich nach 35 Kilometern beim gleichnamigen Städtchen wiederum in zwei Arme, in die Atmath und die Skirwiet. Die Atmath erreicht erst nach über zwölf Kilometern das Haff. Inseln und Halbinseln säumen die Atmath bis zur Mole und dem Leuchtturm Kuwertshof, wo der Flussarm ins Haff mündet. Folgte man im Dorf Ruß nicht dem Lauf der Atmath, sondern dem Skirwietarm, stieß man nach vielen Windungen auf Inseln im mäandernden Fluss. 

Wo der Fluss die einzige Straße ist

„Hier ist die Einsamkeit zuhause.“ Die Schriftstellerin Charlotte Keyser nahm ihre Heimat als beseelt und schweigend redsam wahr. „Dieses ewig weite, sonnenüberflutete grüne Land hat eine eigene Sprache. Es redet von Unbegrenztheit und Freiheit und eine leise Ahnung streift unser Herz, dass das unendlich große Begriffe sein müssen, größer, als wir sie zu denken gewohnt sind.“ Keyser wurde 1890 in Ruß im Memeldelta geboren. Sie war zunächst Lehrerin in Tilsit. Ab 1939 veröffentlichte sie Romane. In „Eine vergessene Geschichte“ entführt sie ihre Leser in die Unendlichkeit der Felder und sattgrünen Weiden des Memeldeltas. „Fahrt nur hinein in den breiten Atmath-strom und dann durch den gerade gezogenen Taggraben in die Minge, mitten durch das Fischerdorf Minge hindurch, dessen einzige Straße der Fluss ist. Man schaut hinein wie in ein Wunder.“

Fährt der Besucher heute auf geschotterten Pisten und Sandwegen längs der Memel und des Kurischen Haffs in Richtung Klaipėda/Memel, so reist er in Zeitlosigkeit in einer grünen Wunderwelt; vorbei an vielen Spuren deutscher Geschichte in einer Gegenwart, die „Preußisch Litauen“ nicht leugnet. Tröstlich: An der Memel ist alles noch da, solange wir uns erinnern können.






Hermann Pölking ist Autor diverser Bücher und Regisseur von filmischen Dokumentationen zur deutschen Geschichte allgemein und zur Geschichte Ostpreußens, darunter „Der Bruderkrieg 1870/71“ (Herder 2020) und die fünf-

stündige DVD-Edition „Ostpreußen. Panorama einer Provinz“ (be.bra).

www.helden-der-geschichte.de





Landeskunde

Hermann Pölking

Das Memellland. Wo Deutschland einst zu Ende war. Geschichte eines Grenzlandes Be.bra verlag 2022, gebunden, 352 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, ISBN: 978-3-89809-207-4 32 Euro