19.04.2024

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Folge 43-22 vom 28. Oktober 2022 / Deutsche Klassik / Werthers Vorbild / Karl Wilhelm Jerusalem starb vor 250 Jahren – Sein Selbstmord inspirierte Goethe zu seinem Klassiker

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-22 vom 28. Oktober 2022

Deutsche Klassik
Werthers Vorbild
Karl Wilhelm Jerusalem starb vor 250 Jahren – Sein Selbstmord inspirierte Goethe zu seinem Klassiker
Dagmar Jestrzemski

In der Nacht vom 29. zum 30. Oktober 1772 schoss sich in Wetzlar der junge Karl Wilhelm Jerusalem, ein junger Legationssekretär am Reichskammergericht, in seiner Mietwohnung am Schillerplatz in den Kopf. Er starb wenige Stunden später. Einige herbeigerufene Freunde konnten zuvor von ihm Abschied nehmen. 

Der Selbstmord aus Liebeskummer seines ehemaligen Arbeitskollegen inspirierte Johann Wolfgang Goethe zu seinem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“. Wie der melancholische und wegen beruflicher Misserfolge verbitterte Jerusalem greift Goethes Werther am Ende zur Pistole und erschießt sich. 1774 wurde die erste Ausgabe des „Werther“ auf der Michaelismesse in Leipzig dem Publikum vorgestellt. Durch seinen ersten Roman, der sein erfolgreichster blieb, wurde Goethe über Nacht berühmt. Das Werk avancierte zum Kultbuch einer Generation, deren Befindlichkeit durch die Handlung selbst und den authentischen, mitfühlenden Ton des Autors einen bewegenden literarischen Ausdruck erhielt.

Auch international war und blieb „Die Leiden des jungen Werthers“ das bekannteste und meistverbreitete Werk des bald darauf in ganz Europa berühmten Schriftstellers. Wie Goethe war auch Jerusalem vielseitig interessiert, philosophie-, kunst- und literaturbegeistert. Obwohl er einige philosophische Aufsätze verfasst hat, die Lessing nach seinem Tod herausgab, wäre er heute ohne Goethes „Werther“ vergessen. 

Goethe litt selbst unter heftigen Stimmungsschwankungen, was man damals Empfindsamkeit nannte. Unbeständigkeit und Schwierigkeiten mit der Impulskon­trolle teilte er mit vielen, die sich in der Folge als Stürmer und Dränger hervortaten. Mit seiner Erzählung von der unglücklichen, unerfüllten Liebe des sensiblen Werther zu Lotte, die bereits verlobt ist, meisterte er seine eigene Lebenskrise, die einen ähnlichen Hintergrund hatte. Im Juli 1772 hatte Goethe in Wetzlar Charlotte Buff kennengelernt und sich heftig in sie verliebt. Nach dem frühen Tod der Mutter führte Lotte den Haushalt und sorgte für ihre neun Geschwister. Doch sie war seit 1768 mit dem zehn Jahre älteren Johann Christian Kestner verlobt. Mit seinem brüsken Abschied von Wetzlar im September 1772 folgte der leidenschaftliche Goethe einer Aufforderung Lottes, blieb aber in brieflicher Verbindung mit den Verlobten. Kestner, mit dessen Pistole Jerusalem sich tötete, berichtete Goethe ausführlich  über die Umstände des Todes des unglücklich Verliebten. Der Schlussteil der „Leiden des jungen Werthers“ ist eng an die Geschehnisse angelehnt. 

Der Roman löste in ganz Europa eine Welle von Selbstmorden aus, was Goethe den Vorwurf eintrug, er habe mit dem Roman zum Selbstmord aufgerufen. Jedoch erschien das Buch in einer Zeit, als in gebildeten Kreisen die Idee des „romantischen Selbstmords“ bereits länderübergreifend ein Thema war.

In Wetzlar erinnert das Museum Jerusalemhaus am Schillerplatz 5 an das Leben und den tragischen Tod von Jerusalem. In dem Fachwerkhaus mit rötlichem Ständerwerk sind in den beiden Zimmern, die er bewohnt hat, neben bürgerlichem Mobiliar des 18. Jahrhunderts Bildnisse, Landkarten, Druckschriften und eine Handschriftensammlung mit einem persönlichen Bezug zu Karl Wilhelm Jerusalem ausgestellt.