26.04.2024

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Folge 44-22 vom 04. November 2022 / Eine Bildungsnation vor dem Abgang / Jüngste Studien stellen dem deutschen Schulwesen schlechte Noten aus. Eine ehrliche Analyse zeigt, dass die gegenwärtige Lage das Ergebnis langer ideologiegeleiteter Fehlentwicklungen ist. An den Hochschulen sieht es kaum besser aus

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-22 vom 04. November 2022

Eine Bildungsnation vor dem Abgang
Jüngste Studien stellen dem deutschen Schulwesen schlechte Noten aus. Eine ehrliche Analyse zeigt, dass die gegenwärtige Lage das Ergebnis langer ideologiegeleiteter Fehlentwicklungen ist. An den Hochschulen sieht es kaum besser aus
Josef Kraus

Ein Organismus ist ein hochkomplexes System. Er lebt, solange die einzelnen Organe funktionieren und solange die Organe interagieren. Funktionseinschränkungen einzelner Organe kann ein Organismus als Ganzes oft lange kompensieren. Sind es mehrere Organe, die ihrer Aufgabe nicht mehr oder eingeschränkt nachkommen, droht ein Kollaps, ein Multiorganversagen. Was für ein biologisches System gilt, das gilt ebenso für einen gesellschaftlichen oder sozialen Organismus – zum Beispiel für das Bildungswesen. 

Und diesem Organismus geht es alles andere als gut! Zwar wird in schönen Bilanzen behauptet, dass wir doch immer mehr Studenten und Akademiker, immer bessere Abiturnoten und Hochschulzeugnisse sowie immer mehr Dissertationen, Professoren und sogar mehr „Wissenschaften“ haben, doch sind dies alles Placebo-Befunde, hinter denen sich ernste systemische Probleme verbergen. 

Der Niedergang der Grundschulen

Die Probleme beginnen mit der Grundschule: Sie ist in mehreren deutschen Ländern keine „Grund“-Schule, also die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen zugrundlegende Schule mehr. Die jüngste IQB-Studie für 2021 (IQB – Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin) zeigt überdeutlich: Deutschlands Viertklass-Grundschüler fallen in Sachen Lesen, Orthographie und Rechnen immer weiter zurück. Erreichten in der Studie von 2011 noch rund zwei Drittel der Schüler die Regelstandards für die Untertests in Lesen, Orthographie und Mathematik, so waren es 2021 nur noch 57,6 Prozent in Lesen, 44,4 Prozent in Orthographie und 54,8 Prozent in Mathematik. 

Natürlich sind bei den aktuellen Daten die Auswirkungen der Corona-Pandemie zu berücksichtigen. Wenn Grundschülern in Lockdown-Zeiten Hunderte Stunden von Präsenzunterricht fehlen und wenn Schüler mit Migrationshintergrund wegen Schulschließungen monatelang kein Wort Deutsch mehr hören oder sprechen, hinterlässt das gewiss Spuren. 

Aber das ist höchstens ein Drittel der Wahrheit. Man macht es sich (mal wieder) zu leicht, wenn man die seit Jahrzehnten wirksamen Faktoren des schulischen Leistungsverfalls ausblendet: die schulpolitisch und pädagogisch gewollte Absenkung der Leistungsanforderungen sowie den stetig wachsenden Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund und zum Teil nur rudimentären Deutschkenntnissen.

Ergebnisse jahrzehntelanger Reformen 

In den oberen Jahrgangsstufen sieht es kaum besser aus. Das Gymnasium wurde zur Hauptschule, die Gesamtschule ist gescheitert, wird aber trotzdem gehätschelt. Im weiterführenden Schulwesen ab Klasse 5 stellt sich der Leistungsverfall entsprechend wie folgt dar: Die Gymnasien werden von immer mehr Schülern besucht, die den originären Ansprüchen des Gymnasiums nicht folgen können. Das hat damit zu tun, dass in den meisten deutschen Ländern allein die Eltern entscheiden, welche weiterführende Schule ihr Kind besucht. 

Die Folgen sind eine Niveauabsenkung der gymnasialen Ansprüche und ein Verlust an talentierten Schülern in den anderen Schulformen. Die Hauptschule wurde in der Mehrzahl der Bundesländer abgeschafft, die Folge war eine weitere Verlagerung der Schülerschaft in Richtung Gymnasium und Realschule. Vor allem in SPD-regierten Ländern sollte an Stelle des gegliederten Schulwesens eine Gesamtschule/Gemeinschaftsschule etabliert werden. Diese Einheitsschule bleibt aber seit mittlerweile fast einem halben Jahrhundert trotz überdurchschnittlich guter personeller Ausstattung den Beweis ihres Leistungsvermögens schuldig. 

Beispiel: In Baden-Württemberg wurde 2011 mit dem Regierungswechsel zu Grün/Rot die Gemeinschaftsschule mit großem Jubel und überbordenden Versprechungen eingeführt. Elf Jahre später zeigt diese Schulform etwa bei der jüngsten VERA-8-Testung (Vera = VERgleichsArbeiten in der 8. Jahrgangstufe): Die Leistungen der Schüler der Gemeinschaftsschule in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik liegen deutlich unter dem Landesschnitt, sehr weit hinter den Leistungen der Gymnasiasten und signifikant hinter den Leistungen der Realschüler. Bei deutschlandweiten Vergleichen ist das „Ländle“ binnen eines Jahrzehnts deutlich zurückgefallen.  

Ein weiteres Problem des deutschen Bildungssystems ist, dass schulpädagogische Verirrungen nicht als solche benannt werden. Im Stakkato seien sie hier dennoch identifiziert: die Verteufelung des straffen, effektiven „Frontalunterrichts“ und dessen Ersetzen durch zeitaufwendige und ineffektive „schülerzentrierte“ Unterrichtsformen (Gruppenarbeit, Materialtheke, Freiarbeit); die Geringschätzung des konkreten Wissens im Zuge der „Kompetenzen“-Pädagogik, mit der aus Lehrplänen Leerpläne wurden; das Schreiben nach Gehör/phonetische Schreibweise; die Genderisierung der Sprache; die Digitalisierung des Unterrichts bereits in der Grundschule und nicht zuletzt die teilweise Abschaffung von Noten, Hausaufgaben und des Sitzenbleibens. 

Ergebnis: Konnte man noch in den 1990er erwarten, dass ein Viertklässler einen Grundwortschatz von 1.000 Wörtern hatte, sind es heute zumeist nur noch 700 bis 800. 

Folgen einer ungesteuerten Migration

Auch wenn man es in den Spitzen der Politik nicht wissen will und man sich mittlerweile schnell den Vorwurf des Rassismus einfängt, wenn man – auch wissenschaftlich unwiderlegbar – es festhält: Viele Leistungsprobleme haben mit den steigenden Migrantenanteilen in den Schulen zu tun. In zahlreichen Großstädten sind Grundschulklassen mit 80 und mehr Prozent Kindern mit Migrationshintergrund keine Ausnahme. Bei entsprechend defizitärer Beherrschung der deutschen Sprache. Will sagen: Die Zuwanderungspolitik der letzten Jahrzehnte hat den Schulen Probleme beschert, die sie nicht bewältigen können. 

Die Zunahme an Schülern mit mangelhaften Kenntnissen der deutschen Sprache trifft auf einen dramatischen Mangel an qualifizierten Pädagogen: Es gibt in Deutschland für die rund 42.000 Schulen mit ihren rund zehn Millionen Schülern etwa 780.000 Lehrer. Auf den ersten Blick ist das eine gigantische Zahl. Dennoch fehlen den Schulen Zigtausende an Lehrern. Dieser Lehrermangel reißt Löcher in die Unterrichtsversorgung. Folge: Die Klassen müssen größer gemacht werden und – was noch gravierender ist – Pflichtunterricht muss gekürzt werden. Das schränkt zudem die Möglichkeiten ein, schwächere oder aktuell zugewanderte Schüler (etwa 180.000 aus der Ukraine) adäquat zu fördern. 

Der Lehrermangel ist freilich ein hausgemachtes Problem der Schulpolitik. Wiewohl die maßgeblichen Planungsdaten recht exakt vorliegen (Altersstruktur der Lehrerschaft, Ruhestandsversetzungen, Entwicklung der Schülerzahlen in den nächsten zehn bis 15 Jahren). Das heißt aber auch: Die 16 deutschen Schulminister haben hier geschlafen. Nun müssen sie mit Notbehelfen operieren: Aufstockung von Teilzeitdeputaten, Rekrutierung von pensionierten Lehrern, Arbeitszeitverlängerungen für Lehrer, Gewinnung von weniger qualifizierten Quereinsteigern …

Vermassung der Hochschulen

Dramatisch ist auch die Lage an den Hochschulen. Diese kämpfen vor allem mit der Vermassung. Mittlerweile gibt es in Deutschland 2,94 Millionen Studenten, unmittelbar nach der Wiedervereinigung waren es 1,78 Millionen. Masse statt Klasse ist angesagt. Denn aufgrund immer lascherer Abituranforderungen sind immer mehr formal Studienberechtigte faktisch nicht studierfähig. Viele Hochschulen reagieren darauf, indem sie Luftkurse für Studienanfänger einrichten, weil diese aus der Schule oft nicht mehr mitbringen, was Voraussetzung für ein Studium wäre. 

Inflationär ist zugleich die Zahl der Bestnoten angestiegen: Bachelor- und Masterabschlüsse unterhalb der Noten 1 oder 2 sind kaum noch zu finden. Ähnlich inflationäre Entwicklungen gibt es bei den Promotionen: 2021 gab es 28.153 abgeschlossene Promotionen, im Jahr 1993 waren es 22.404. Gravierendste Folge all dieser Vermassungen: Die berufliche Bildung blutet aus, es fehlt an Fachkräften. Die Zahl der Auszubildenden ist von 1,7 Millionen im Jahr 2000 auf zuletzt (2020) 1,29 Millionen zurückgegangen.

„Woke Ideologien“ statt Exzellenz 

Hinzu kommt, dass sich die Hochschulen mehr und mehr „woken“ Ideologien unterwerfen. Die Zeiten scheinen vorbei, als Deutschland ein wissenschaftlicher Gigant war, als das Deutsche Reich ab 1871 eine gewaltige Dynamik in Wissenschaft und Technik erfuhr: in Physik und Chemie, in der Elektrotechnik, in der Optik, in der Medizin, in der Pharmazie (Deutschland als „Apotheke der Welt“), im Eisenbahnwesen, im Automobilbau, im Maschinenbau, im Bergbau. Aus einem Agrarland wurde binnen weniger Jahrzehnte ein führendes Industrieland. 

Heute sind eine produktive, praxisrelevante Wissenschaft sowie die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Forschung und Lehre nicht mehr überall garantiert. Dieser Verdacht beschleicht einen, wenn man allein die Forschungsförderung anschaut. So erklärte die mit einer Fördermasse von jährlich zuletzt 3,6 Milliarden Euro ausgestattete Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) am 5. Juli 2022 qua Presseerklärung: „DFG startet neue Initiative für Gleichstellung und Diversität.“ Künftig heißen die entsprechenden Standards „Forschungsorientierte Gleichstellungs- und Diversitätsstandards“. Beide Themen seien Voraussetzung für „exzellente Wissenschaft“. Neben Geschlecht und geschlechtlicher Identität umfassen die Standards nun unter anderem ethnische Herkunft, Religion und Weltanschauung, Behinderung oder chronische/langwierige Erkrankung sowie soziale Herkunft und sexuelle Orientierung. Dieses Mosaik firmiert mittlerweile unter dem Namen „Intersektionalität.“ Ein eigenartiger Begriff, der hier die Summe aller Unterdrücker- und Ungleichheitsmechanismen zusammenfassen soll.  

Die Zahl der Professuren für Gender-Forschung liegt inzwischen bei über 200. Diese neuen Professuren heißen – von der DFG mitgefördert – jetzt nicht mehr plump „Genderforschung“. Vielmehr bekommen so ziemlich alle herkömmlichen Wissenschaften eine Professur mit einem Appendix-Zusatz namens „Diversität“ oder „diversity“ oder „Intersektionalität“, zum Beispiel Amerikanistik und Intersektionalität oder Ingenieurswissenschaften und „diversity“. Wer als Professor nicht bereit ist, sprachlich zu gendern, wird zum Außenseiter. Die Un-Kultur der „cancel culture“ tut ihr Übriges: Gastreferenten, die auch nur entfernt im Geruch des Konservativen stehen, dürfen nicht mehr eingeladen werden, oder aber „Aktivisten“ stören entsprechende Veranstaltungen.

Ist eine Umkehr denkbar? Oder geht der freie Fall weiter? Letzteres ist zu befürchten, denn es sind keine politischen und akademischen Kräfte erkennbar, die eine radikale Kurskorrektur erwarten ließen. Deshalb wird es – verbunden mit einem gewaltigen „braindrain“, also einem Abwandern von Spitzenkräften – die Bildungsnation Deutschland in Kürze nur noch als Präteritum und als nostalgische Erinnerung geben.






Josef Kraus war bis zur Pensionierung 2015 Gymnasialdirektor in Niederbayern und von 1987 bis 2017 ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Zu seinen Büchern gehören „Wie man eine Bildungs-nation an die Wand fährt“ (Herbig 2017) und „Der deutsche Untertan. Vom Verlust des eigenen Denkens“ (Langen Müller 2021).