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Folge 44-22 vom 04. November 2022 / Ukrainekonflikt / Russland sucht seinen Weg / Zwischen Apathie und stillem Widerstand – Die Staatsmacht spielt mit der Angst der Bürger

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-22 vom 04. November 2022

Ukrainekonflikt
Russland sucht seinen Weg
Zwischen Apathie und stillem Widerstand – Die Staatsmacht spielt mit der Angst der Bürger
Manuela Rosenthal-Kappi

Spätestens seit der Teilmobilisierung ab Ende September dürfte selbst dem gutgläubigsten Russen klar geworden sein, dass Putins „militärische Spezialoperation“ in Wirklichkeit ein handfester Krieg ist, auch wenn das K-Wort öffentlich nicht ausgesprochen werden darf. Tausende Familien werden mit verwundeten und toten russischen Soldaten konfrontiert. Genaue Zahlen sind zwar nicht bekannt, Schätzungen gehen aber von 50.000 Gefallenen aus. 

Die Kriegsrealität rückt immer deutlicher in den Blick der Bürger. Ob Fehler bei der Rekrutierung von Reservisten – Männer vom Greis bis zu solchen in wichtigen Positionen wurden einberufen –, mangelnde Ausbildung, fehlende Ausrüstung oder Misserfolge im Kriegsgebiet sowie negative Auswirkungen auf die Versorgung der Bürger – all das hat selbst treue Putin-Propagandisten zu medienwirksamen Auftritten im Staatsfernsehen veranlasst. Wladimir Solowjow, Putins Scharfmacher vom Sender Rossija 1, nahm das verbotene Wort in den Mund: „Ich habe keine Angst. Ich sage, das ist ein Krieg mit der NATO.“ Die bislang linientreue Chefredakteurin des Propagandasenders Russia Today, Margarita Semonjan, rückte mit Kritik an der Teilmobilisierung von der Regierung ab.

Nicht nur die Teilmobilmachung versetzt die Menschen in Angst und Schrecken, sondern auch deren Auswirkung auf die wirtschaftliche Lage. Verloren in den vergangenen zwei Jahren viele ihre Arbeitsplätze wegen der Corona-Krise und der Sanktionen des Westens, so kommt nun ein anderer Faktor hinzu. Familien fehlen durch die Rekrutierung von Männern im arbeitsfähigen Alter ihre Ernährer, Firmen ihre leistungsfähigsten Mitarbeiter. Die Zahl der freien Stellen hat sich verdoppelt. Arbeitgeber konkurrieren nicht nur untereineinander, sondern auch mit der Armee um Mitarbeiter. Vor allem die gefragte Altersgruppe zwischen 20 und 39 Jahren wurde entweder eingezogen oder ist geflüchtet. Viele kleinere und mittlere Unternehmen stecken in ernsten finanziellen Nöten. 

Insgesamt befindet sich die russische Wirtschaft im Schockzustand. Die Beschaffungskosten sind wegen der Sanktionen und Warenknappheit um 20 bis 80 Prozent gestiegen. Die Regierung versucht, gegenzusteuern. Sie erließ eine Fristverlängerung für Steuerzahlungen, Sozialabgaben und ähnliche Pflichtabgaben. Bei Krediten gewähren Banken Tilgungspausen. Nach Vorstellung der Regierung soll die Wirtschaft ohne Unterbrechung funktionieren, doch die Realität sieht anders aus: Alexander Kalinin von „Opora Rossii“, einer Vereinigung kleiner und mittlerer Unternehmen, fragt, wie das möglich sein soll, wenn etwa in einem der führenden Landwirtschaftsbetriebe 80 Prozent der Traktoristen eingezogen wurden. 

 „Stiller Bürgerkrieg“

Für Putin könnte es in naher Zukunft eng werden. Mit der Teilmobilisierung hat er das Vertrauen der Bevölkerung verspielt und Angst gesät. Die Menschen reagieren unterschiedlich auf die aktuelle Situation. Die Mehrheit zieht sich ins Private zurück, viele verfallen in Apathie. Der Verbrauch von Antidepressiva und Beruhigungsmitteln ist rasant gestiegen. Ähnlich wie zu Zeiten der Sowjetunion wächst das Denunziantentum – sogar Ehepartner zeigen sich gegenseitig wegen staatsfeindlicher Äußerungen an, und Priester brechen das Beichtgeheimnis.

Dennoch berichten Beobachter von einem „stillen Bürgerkrieg“. Im Untergrund rege sich Widerstand, der sich auf Dauer nicht verheimlichen oder unterdrücken lasse. Zahlreiche Regimegegner agieren aus dem Ausland, darunter auch kommunale Bezirksabgeordnete, die wegen ihrer Kritik fliehen mussten wie Vertreter der sozialliberalen Partei Jabloko.

Einige Aktivisten im Untergrund kleben Aufkleber und Plakate in Städten oder sprühen Graffiti. Sie schlagen die Regierung mit ihren eigenen Waffen, indem sie über gefälschte Konten in sozialen Medien Informationen streuen. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung bleibt aus Angst aber zurückhaltend. Die Menschen entwickelten individuelle Überlebensstrategien, so eine Aktivistin. Dennoch hegt sie Hoffnung auf eine Zeit nach Putin. „Ich sehe Russland in der Zukunft als einen normalen demokratischen Staat“, so die 38-jährige Ksenia Thorstrom, bis vor Kurzem Kommunalpolitikerin in St. Petersburg, in einem Interview.

Einige Abgeordnete in Moskau befürchten dagegen einen blutigen Bürgerkrieg, wenn sich Konflikte innerhalb der Elite Bahn brechen sollten. Der Menschenrechtsanwalt Mark Feygin, der die Band Pussy Riot vor Gericht vertrat, hält es für möglich, dass Söldner der Gruppe Wagner mit ihrem Anführer und Putinvertrauten Jewgenij Prigoschin und Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow auf der einen, und russische Armee und FSB-Eliten auf der anderen Seite um die Herrschaft streiten. 

 Militanter Widerstand war vereinzelt bei den Anschlägen auf verschiedene Wehrersatzämter zu beobachten. Die Widerstandsgruppe „Stoppt die Waggons!“, eine Anti-Kriegs-Gruppe, blockiert die Schienen wichtiger Bahnknotenpunkte in Moskau, St. Petersburg und nach Weißrussland, um den russischen Nachschub für die Truppen zu behindern. Weitere Widerstandsgruppen wie die „Nationale Republikanische Armee“ des im Kiewer Exil lebenden Ex-Duma-Abgeordneten Ilja Ponomarjow und rechte Gruppen haben das Ziel, Putin zu stürzen.

Hoffnung machen Mitglieder der Nichtregierungsorganisation Memorial, die kürzlich den Friedensnobelpreis erhielt. Sie organisieren politische Spaziergänge in Moskau, weil offene Anti-Kriegs-Proteste verboten sind. Andere Bürgerrechtler leisten über soziale Netzwerke Aufklärungsarbeit. Im Netz gibt es Anleitungen, wie man per VPN die staatlichen Kontrollen oder Beschränkungen umgehen kann. 


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