19.04.2024

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Folge 44-22 vom 04. November 2022 / Kolumne / Der Aufstieg eines Begriffs

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-22 vom 04. November 2022

Kolumne
Der Aufstieg eines Begriffs
Florian Stumfall

Es gibt einen viel gebrauchten Begriff im politischen Sprachschatz, der neu ist, weil er in einer Lage entstanden ist, die ehedem nicht bekannt war. Dieser Begriff lautet „Wutbürger“ und hat nach kurzer Lebensdauer bereits den Stand des Unverzichtbaren und Notwendigen erreicht. Kein Wunder, denn das Wort ist mehrschichtig und strategisch anwendbar. Zunächst bezeichnet es eine Gegnerschaft zwischen Bürgern und der Regierung, gegebenenfalls auch dem Parlament. Zum Zweiten wird die unschöne Regung der Wut durch die sprachliche Verbindung mit dem Bürger diesem zugemessen. Dabei erscheint die Obrigkeit in weißer Unschuld. Und so werden, drittens, die von der Wut ergriffenen Bürger in einem Umfang ins Unrecht gesetzt, der es erlauben soll, in deren Rechte spürbar einzugreifen.

Anlass und Erklärung für diese einschneidende Maßnahme ist der sogenannte Sturm auf den Reichstag vor zwei Jahren, als eine Gruppe von Demonstranten Anstalten machte, in das Parlamentsgebäude einzudringen. Das Gewaltpotential der Leute konnte indes von zwei Polizeibeamten im Zaum gehalten werden. Doch gleichviel – auch wenn sich eine solche Szene seither nicht wiederholt hat, treffen die Verantwortlichen im Reichstag Vorkehrungen für ein nächstes Mal.

So hat man das Vorfeld des Parlaments zunächst einmal mit Pollern und Steinklötzen versehen und, offenbar in der Befürchtung, es sei zu wenig, diese Armierung jetzt durch Betonsperren ergänzt. Zudem hat man rings um das Gebäude einen zehn Meter breiten und zweieinhalb Meter tiefen Burggraben ausgehoben. Was noch fehlt, sind die Einleitung von Wasser und eine Zugbrücke. Öffnungen für das Ausschütten von Pech und heißem Öl könnten ein zusätzliches Maß an Sicherheit gewährleisten, sind aber bislang nicht vorgesehen.

Nachfolge-Bauten der Mauer

Ohne Frage: Diese Einrichtungen sind insofern augenfällige Nachfolge-Bauten der Berliner Mauer des Walter Ulbricht aus dem Jahr 1961, als es sich in beiden Fällen um das in Beton gefasste Mahnmal für ein Zerwürfnis zwischen Volk und Regierung handelt. Da man aber seitens der Obrigkeit zu ahnen scheint, welche Groteske man hier zu verantworten hat, greift man zu einer herzerwärmenden Erklärung, welche die Frage aufwirft, ob diese denn eher unverschämt oder lächerlich sei. Denn im Bericht des Bundestages zur Genehmigung des Grabens heißt es tatsächlich: „Der Graben ist als sogenannter ‚Aha‘-Graben ausgebildet. Mit dem ‚Aha‘-Graben wird ein seit dem 19. Jahrhundert gängiges Gestaltungselement der Gartenbaukunst bezeichnet, dessen Ursprünge in der Planung englischer Landschaftsparks liegen.“

Diese skandalösen Befestigungen samt der nicht minder skandalösen Erklärung als Gartenbaukunst kennzeichnet in bislang nicht erreichter Deutlichkeit die Entfremdung zwischen den Bürgern und der politischen Klasse, wobei eine auch nur oberflächliche Suche nach den Gründen hierfür ergibt, dass die Schuld, anders als es das Wort vom Wutbürger einflüstern will, in der Überheblichkeit, der Selbstgefälligkeit und dem Eigennutz einer großen Zahl der Politiker liegt, und, in enger parasitärer Verbindung zu diesen, ebenso bei den meisten Medienleuten.

Dass in einer Demokratie das Volk den Souverän darstellt, und der Regierung zwar die ausübende, aber dennoch rechenschaftspflichtige Gewalt zufällt, scheint vollständig in Vergessenheit geraten zu sein. Auch die Parlamentarier sind nicht Herren aus eigener Macht, sondern vom Souverän auf Zeit mit ihrer Aufgabe betraut. Doch dessen ungeachtet bilden die verschiedenen politischen Kräfte ein unentwirrbares Ineinander. Die Bürger reagieren darauf meist mit dem vorwurfsvoll-resignierenden Wort von „denen da droben“. Nichts zeigt diese Entwicklung deutlicher als das mittlerweile blamable Absinken der Wahlbeteiligung.

Es hat sich eine Kaste gebildet, die auf einem eigenen Planeten lebt. Die Zugehörigkeit zu dieser Kaste gewährt so viele Vorteile, dass ihre Mitglieder alles daransetzen, ihre Zugehörigkeit zum Klub der Erwählten zu erhalten. Denn die Zahl derer, für die das Mandat eine finanzielle wie soziale Beförderung bedeutet, ist hoch und nimmt mit jenen ständig zu, die überhaupt keinen Beruf haben. Ein Blick in die Reihen des politischen Personals insbesondere der Grünen enthüllt ein erschreckendes Bild.

Kaste auf einem eigenen Planeten

Das Trachten vor allem solcher Abgeordneter muss es also sein, ihre Wiederwahl sicherzustellen, weil sie ansonsten in die Niederungen der Wirklichkeit abstürzen müssten. So werden sie zur Verfügungsmasse von Kräften, die ihre angebliche Unabhängigkeit völlig auflösen: von Partei-Oberen, Lobbyisten, Verbandsfunktionären, Sponsoren und Journalisten. Die Verantwortung vor dem Wähler rückt demgegenüber weit nach hinten. Dazu kommt die sogenannte Fraktionsdisziplin, die tatsächlich den systematischen Bruch der Bestimmung des Grundgesetzes bedeutet, gemäß der die Abgeordneten keinen Weisungen, sondern nur ihrem Gewissen unterworfen sein dürfen. Botmäßigkeit gegenüber den Amtsträgern in Partei und Fraktion wird wichtiger als politischer Verstand, Gefolgschaft in der Sache zählt mehr als eine eigene politische Idee. Das alles führt dazu, dass sich die Kaste mehr und mehr vom Volk entfernt.

So ist es nicht mehr zulässig, darüber auch nur zu staunen, welch schlechte Politik in Deutschland gemacht wird. Die Kritik daran wird schon als „Delegitimierung des Staates“ verunglimpft und als justitiabel hingestellt. Auch hier offenbart sich ein verräterischer Gedanke. Bei dem Schlagwort von der Delegitimierung nämlich wird die Regierung mit dem Staat gleichgesetzt, wo sie doch nur eines seiner Organe ist. Dass alle Gewalt vom Volk ausgeht, wird in diesem Zusammenhang still schweigend geleugnet, und dem „Wutbürger“ wird die Pflicht zu Erklärung und Rechtfertigung von der Politik auferlegt. Natürlich hat sich jeder Protest an die vorgegebenen Regeln zu halten. Dasselbe gilt aber in gesteigertem Maße für jedes politische Handeln. Und vor dem Vorwurf, sich dagegen zu versündigen, helfen auch keine Betonsperren.

Der Autor ist ein christsoziales Urgestein und war lange Zeit Redakteur beim „Bayernkurier“.