Wenn an diesem Sonntag die Fußballweltmeisterschaft beginnt, werden die einen jubeln – und die anderen fluchen. Die einen, weil endlich wieder die besten Fußballer der Welt zusammenkommen, die anderen, weil sie sich an dem Austragungsland Katar stören.
Schon seit Jahren steht das Emirat am Golf im Fokus der Kritik: So beklagen Menschenrechtsorganisationen unter anderem eine systematische Schlechterstellung der Frauen gegenüber Männern, die Einschränkung politischer Freiheiten, die Unterdrückung sexueller Minderheiten und nicht zuletzt die miserablen Arbeitsbedingungen von Niedriglohnarbeitern. Unter diesen Umständen, so die Kritiker, sei eine WM-Teilnahme als Spieler oder Zuschauer ethisch nicht vertretbar.
Diese Vorwürfe sind durchaus berechtigt. Zumal die Spiele in einem Staat stattfinden, der mit Fußball rein gar nichts zu tun hat und das Turnier unter höchst fragwürdigen Umständen allein aus Marketing-Gründen ins Land geholt hat.
Und doch ist nicht nur der Austragungsort Katar zu hinterfragen, sondern auch die gegen das Wüsten-Emirat erhobenen Vorwürfe. Denn als im März Wirtschaftsminister Robert Habeck in die Hauptstadt Doha flog, um nach den gegen Russland verhängten Sanktionen eine Energiepartnerschaft mit den Scheichs zu verhandeln, und sich dabei tief vor dem Energieminister verneigte, hielt sich die Kritik arg in Grenzen. Mochte Habecks Parteifreundin Annalena Baerbock bei ihrem Amtsantritt als Außenministerin noch eine „wertegeleitete Außenpolitik“ verkündet haben, so war die Energie-Not nun offenbar so groß, dass ethische Bedenken schnell zur Seite geschoben wurden.
Das Spiel mit doppelten Standards
Auch wenn es letztlich nicht zu Habecks Gas-Deal am Golf gekommen ist, zeigt das Beispiel Katar doch wunderbar das Spiel mit doppelten Standards beziehungsweise einer doppelten Moral. Ein Spiel, dass seit alters her im politischen Raum gepflegt wird, aber selten so fragwürdig war wie in unserer moralisch aufgeladenen Zeit.
Als die Bundesregierung vor wenigen Wochen die Beteiligung des Pekinger Staatskonzerns Cosco an dem Hamburger Hafen genehmigte, gab es zwar einige Aufregung, doch spielte die Besetzung Tibets durch das kommunistische Land ebenso wenig eine Rolle wie die brutale Unterdrückung der Uiguren. Andererseits wurde im Frühjahr die Empörung über den russischen Angriff gegen die Ukraine von interessierten Kreisen geschickt genutzt, um die jahrzehntelangen Wirtschaftsbeziehungen mit den Russen zu beenden.
Schon diese wenigen Beispiele entlarven die Floskel von der „wertegeleiteten Außenpolitik“ zumindest als naive Träumerei, wenn nicht gar als Schwindel. Allzu oft ist allzu offensichtlich, dass moralische Aspekte immer dann vorgetragen werden, wenn sie irgendwelchen Interessen dienen – während sie gern zurückgestellt werden, sobald sie diesen Interessen im Wege stehen.
Otto von Bismarck mahnte 1870 in einem Tischgespräch: „Gefühlsausbrüche (gehören) nicht in die Politik“ und 1887 in einem Brief: „In der auswärtigen Politik (sind) nicht Gefühle, sondern Interessen und Gegenseitigkeit zur Richtschnur zu nehmen.“ Das gilt heute wie damals. Staaten kennen keine Gefühlen folgenden Werte, doch sie haben Interessen: zum Beispiel die innere und äußere Sicherheit oder eine Wohlstand schaffende Wirtschafts- und Sozialordnung oder eine stabile und preisgünstige Energieversorgung.
Interessen sind – siehe die genannten Beispiele – klare und ehrliche Maßstäbe, die zudem über den Alltag hinaus gelten. Deshalb auch kann es richtig sein, gute Wirtschaftsbeziehungen mit Ländern zu pflegen, deren Gesellschaftsordnung man selbst ablehnt – oder auch in einem fragwürdigen Land ein sportliches Großereignis durchzuführen.
Werte hingegen unterliegen viel stärker den Konjunkturen des Zeitgeistes. Was heute der Gesellschaft ein zentrales Anliegen sein mag, kann morgen schon nur noch Achselzucken erregen.