Der Wahlabend des 19. November 1972 kann als ein Höhepunkt in der politischen Karriere Willy Brandts bezeichnet werden. Drei Jahre zuvor war er nach der Wahl zum 6. Deutschen Bundestag, obwohl nur Vorsitzender und Spitzenkandidat der nach der CDU/CSU zweitstärksten Partei, zum Bundeskanzler gewählt worden, da seine SPD mit der FDP eine Koalition einging, die mit 278 von 518 Sitzen im Bundestag die absolute Mehrheit besaß.
Diese Mehrheit schmolz indes dahin. Mit der umstrittenen Neuen Ostpolitik unzufrieden, wechselten diverse Bundestagsabgeordnete aus dem Regierungslager in das der Opposition. Das Misstrauensvotum vom 27. April 1972 überstand Brandt zwar mit dubiosen Mitteln, aber ohne Regierungsmehrheit ließ sich schlecht regieren. So provozierte er mit der verlorenen Vertrauensfrage vom 20. September des Jahres Neuwahlen. Der Bundespräsident, sein Parteifreund Gustav Heinemann, spielte mit, löste am 22. September das Parlament auf, und am 19. November wurde der Bundestag neu gewählt.
SPD und FDP konnten gegenüber dem Ergebnis von 1969 noch zulegen. Der Stimmenanteil der Freien Demokraten stieg um 2,6 Punkte auf 8,4 Prozent, jener der Sozialdemokraten um 3,1 Punkte auf 45,8 Prozent. Die sozialliberale Koalition mit SPD-Chef Brandt als Kanzler und FDP-Chef Walter Scheel als Vizekanzler und Außenminister konnte fortgesetzt werden.
Ein zusätzlicher Erfolg für Brandt bestand darin, dass nicht nur die von ihm geführte Regierung bestätigt wurde, sondern dass auch die von ihm geführte Partei erstmals die Union als stärkste Partei ablösen konnte. 0,9 Prozentpunkte lag die SPD vor der Union. Damit konnte die SPD nun nach dem Bundespräsidenten und dem Bundeskanzler auch erstmals den Bundestagspräsidenten stellen.
Lange konnte sich Brandt dieser Bestätigung seiner Regierungspolitik nicht erfreuen. Bereits zwei Jahre später trat er als Bundeskanzler wegen der Guillaume-Affäre zurück. Sein Nachfolger im Kanzleramt wurde sein Parteifreund Helmut Schmidt. Der konnte sich mit acht Jahren zwar ungleich länger im Amt halten. In Schmidts Amtszeit als Regierungschef wurde die SPD indes niemals stärkste Partei.
Ein noch größerer Verlierer der Bundestagswahl vor 50 Jahren als Kai-Uwe von Hassel, der an der Spitze des Bundestages von der Sozialdemokratin Annemarie Renger abgelöst wurde, war der Spitzenkandidat der Union, Rainer Barzel. Im darauffolgenden Jahr trat er als Fraktionsvorsitzender zurück und verzichtete auf eine erneute Kandidatur für den Parteivorsitz. Seine Nachfolger wurden Karl Carstens und Helmut Kohl.M.R.