18.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Folge 47-22 vom 25. November 2022 / Kurt Hirschfeld / Ein ostpreußischer Arzt im Berliner Widerstand / Posthum als „Gerechter unter den Völkern“ in der Gedenkstätte deutscher Widerstand geehrt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-22 vom 25. November 2022

Kurt Hirschfeld
Ein ostpreußischer Arzt im Berliner Widerstand
Posthum als „Gerechter unter den Völkern“ in der Gedenkstätte deutscher Widerstand geehrt
Bettina Müller

Braunsberg im Ermland vor 1945: eine katholische Enklave im ansonsten evangelischen Ostpreußen. Auf Polnisch heißt die Stadt Braniewo. Sie liegt unweit der Grenze zum russischen Königsberger Gebiet. Eine kleine jüdische Gemeinde gibt es auch im Ort. Die Menschen sind in das Stadtleben integriert. Seit die ersten Juden am Anfang des 19. Jahrhunderts in die Stadt kamen, ist das Verhältnis zu den christlichen Mitbürgern gut. So gut sogar, dass man 1853 dem jüdischen Kinderarzt Jacob Jacobson die Ehrenbürgerwürde der Stadt verleiht, was in dieser Zeit eine Seltenheit ist. 

Jüdische Ärzte genießen dort einen hervorragenden Ruf, so auch der Kinderarzt Wilhelm Wiener, der Vater des Schriftstellers Josef Wiener, der sich später in Berlin niederlässt, wo er ein Mietshaus in der Maaßenstraße kauft.

Lange Zeit hat es der aufkeimende Nationalsozialismus in der Stadt schwer, dort, wo man lieber Gott statt einem mörderischen Diktator huldigt. Doch auch in Braunsberg kippt irgendwann die Stimmung, und offener Hass bricht aus. 1938 brennt die Synagoge und wird dem Erdboden gleichgemacht. Im selben Jahr erreichen die Nationalsozialisten mit dem „Reichsbürgergesetz“ ihr Ziel, die noch im Reich verbliebenen jüdischen Ärzte „auszuschalten“. Den Medizinern wird Ende September 1938 die Approbation entzogen. Als sogenannte „Krankenbehandler“ oder auch „Judenbehandler“ müssen diejenigen, die geblieben sind, nun ihr entrechtetes Dasein fristen, bezahlt werden sie für ihren Arbeitseinsatz nicht. 709 jüdische Ärzte leben im Oktober 1938 unter diesen unzumutbaren Bedingungen im Deutschen Reich – von vormals 8000 Ärzten, die dort vorher praktiziert hatten.

Als „Krankenbehandler“ unentgeltlich im Einsatz

Auch der Ostpreuße Kurt Hirschfeld gehört zu der Zielgruppe dieser Schikanen. Hirschfeld wird, wie seinem Lebenslauf in dem Buch „Juden im Widerstand“ (1993) zu entnehmen ist, 1898 in Braunsberg als Sohn des jüdischen Zahnarztes Julius Hirschfeld und seiner Frau Martha geb. Laserstein geboren. Seine Familie ist in Braunsberg alteingesessen, sie ist kurz nach dem 1812er Edikt in die Stadt gekommen. 

Die Familie Laserstein wiederum, zu der auch die Berliner Malerin Lotte Laserstein gehört, stammt aus Preußisch Holland. Hirschfeld studiert in Königsberg, und nach einer mehrjährigen Fachausbildung eröffnet er dort auch seine Praxis. 1936 wird er gezwungen, sie aufzugeben, und er übersiedelt nach Berlin. 

Vielleicht hat er gehofft, in der Anonymität der Großstadt Schutz zu finden, doch es kommt anders. Zunächst heiratet er 1937 in Berlin die Orthopädin Charlotte Rector, auf dem Standesamt ist auch sein Vater anwesend, der eigens aus Braunsberg angereist ist. Doch die Ehe wird schnell überschattet. Vom 1. Oktober 1938 bis April 1940 darf Hirschfeld nicht mehr praktizieren, daher verdient er sich als Orthopädiemechaniker seinen Unterhalt. Bis 1940 hat Hirschfeld Berufsverbot, dann zwingt man ihn dazu, am Jüdischen Krankenhaus als „Judenbehandler“ zu arbeiten. 

Ihm schlägt seitens der Nationalsozialisten ein besonderer Hass entgegen, der Grund: Sein Halbbruder Fritz aus der zweiten Ehe des Vaters war sozialdemokratischer Redakteur und Leiter des Wirtschaftsressorts der „Danziger Volksstimme“. Den Bruder hat man bereits 1933 zusammen mit dem Herausgeber der „Danziger Volksstimme“, Erich Brost, verhaftet. Fritz Hirschfeld wird am 8. Mai 1942 im Vernichtungslager Kulm ermordet. Alle Bemühungen seiner nichtjüdischen Ehefrau, der Schauspielerin Lona Berlow, ihn zu retten, sind umsonst gewesen. Lonas Schwester, die Sekretärin Edith Berlow, hat sich in der Zwischenzeit in Kurt Hirschfeld verliebt, der seit 1937 von seiner Ehefrau in Scheidung lebt, doch eine Heirat ist für die beiden laut „Nürnberger Rassegesetze“ verboten. 

Am 18. November 1942 tauchen sie schließlich in die Illegalität ab, weil Kurts Name auf einer der Transportlisten in die Konzentrationslager steht. Rechtzeitig gewarnt wird er von Vertrauensleuten im Büro der Jüdischen Gemeinde. Die Wohnung seiner Frau in der Grolmanstraße wird zunächst sein Unterschlupf, doch es folgen aus Sicherheitsgründen noch mehrere Wohnungswechsel, und er ist mit gefälschten Papieren unterwegs, getarnt als „Heinz Gützlaff“, der eigentlich Hirschfelds Freund ist. Seine eigenen Papiere hat Gützlaff als gestohlen gemeldet, und so erhält Hirschfeld eine temporäre neue Identität. Oft kommt er bei Freunden unter, sucht Schutz auf dem Land, so zum Beispiel im märkischen Brodowin.  

Für Kurt und Edith kommt es nicht infrage, sich kampflos ihrem Schicksal zu ergeben. „Gemeinschaft für Frieden und Aufbau“ heißt die Widerstandsgruppe rund um Werner Scharff, der sie sich angeschlossen haben. Vor allem Edith Berlow gehört zu den mutigen Frauen, die sich unter stetiger Lebensgefahr in Berlin bewegen und die Anti-Kriegs-Flugblätter verteilen, in denen ausdrücklich zum Widerstand aufgerufen wird, immer auf der Hut vor den Häschern der Nationalsozialisten. Die so anderen einen Hoffnungsschimmer geben wollen. Und davon gibt es viele. Andere Juden, die ebenfalls nicht passiv ausharren wollen, schließen sich der Gruppe um Herbert Baum an, dessen Ehrengrab der Stadt Berlin man heute auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee findet. Ebenfalls im Berliner Untergrund lebt die Gruppe „Chug Chaluzi“ (Pionierkreis), deren Mitglieder sich aus der zionistisch geprägten Jugendbewegung rekrutieren und die sich erfolgreich der Deportation haben entziehen können.  

Edith und Kurt Hirschfeld haben das Grauen des Zweiten Weltkriegs und die Judenverfolgungen überlebt. Hirschfeld arbeitet nach dem Zweiten Weltkrieg noch drei Jahre in Berlin als Chefarzt am Rudolf-Virchow-Krankenhaus. Anfang 1948 verlassen sie, mittlerweile sind sie ein Ehepaar, Deutschland und wandern nach Amerika aus, wo sie am 5. Februar ankommen, und Hirschfeld weiterhin als Arzt praktizieren kann.

Kurt Hirschfeld verstirbt 1971, seine Witwe zieht es trotz allem wieder nach Deutschland, wo sie in West-Berlin ihre letzten Lebensjahre verbringt. 

Vor 30 Jahren, am 4. Oktober 1992, wurde Edith Hirschfeld-Berlow mit dem Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ bedacht, der in Israel seit der Staatsgründung 1948 an nichtjüdische Personen verliehen wird, die sich selbst in Gefahr begaben, um jüdische Menschen vor dem Tod zu retten. Dokumentiert wird der Titel stets in der Gedenkstätte Yad Vashem“, unter anderem durch ein Ehrenzertifikat und eine Ehrenmedaille. 

Am 7. November 2018 wurde schließlich auch Kurt Hirschfeld posthum geehrt, als der israelische Botschafter in Deutschland dessen beiden Kindern die Auszeichnung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand überreichte. Seine Ehrenmedaille trägt die Aufschrift: „Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam eine ganze Welt gerettet.“