Im Sommer 1933 reiste die Philosophin Edith Stein mit dem Nachtzug zum Besuch in ihre Heimatstadt Breslau. Dass es der schwierigste Besuch ihrer 83-jährigen Mutter werden würde, weil keiner danach mehr stattfinden konnte, wusste sie.
Die Nationalsozialisten waren am 30. Januar an die Macht gekommen und gebrauchten diese seitdem mit äußerster Brutalität. Mit allen Repressionsmitteln des Staates und ihren Schlägertrupps jagten die Nationalsozialisten nun gnadenlos die politische Konkurrenz und alle, die sich der braunen Zukunft entgegenzustellen wagten. Und immer grausamer die Juden. Mit dem Ermächtigungsgesetz wurde die Grundlage dafür gelegt, Unrecht in Recht zu wandeln und den Terror gegen alles andere zu legalisieren.
Die Diskriminierung, die Drangsalierung, der Terror gegen die Juden wurde mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und den ersten Boykotten jüdischer Geschäfte im April 1933 eröffnet. Edith Stein, die von dem Gesetz insofern betroffen war, als sie als Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster nicht mehr lehren durfte, schrieb am 5. April 1933 in einem Brief an die Freundin Hedwig Conrad-Martius die bedrückenden Worte: „Meine Lieben in Breslau sind natürlich sehr erregt und bedrückt. An unserem Geschäft macht es leider seit langem keinen Unterschied, ob es geöffnet ist oder nicht. Auch mein Schwager erwartet täglich seine Entlassung (Oberarzt an der Universitätshautklinik). Kuznitzky hat seine Stellung als Chef der Hautstation eines städtischen Krankenhauses bereits verloren. Jeder Brief enthält neue schlimme Nachrichten.“
Privater Rückzug in dunkler Zeit
Edith Stein, die 1922 in den Katholizismus konvertiert war, hatte zwei Ziele. Zum einen wollte sie ihre Mutter nach der Geschichte ihrer Familie befragen, denn sie plante ein Buch über das Alltagsleben jüdischer Familien in Deutschland, um gegen die Hetze der Nationalsozialisten, die perfide Zerrbilder von den Juden propagierten, die Welt der preußischen Juden zu setzen, die genausosehr Preußen wie Deutsche wie Juden waren. Bereits Jahre zuvor hatte ein Ordensmann Edith Stein dazu aufgefordert, aufzuschreiben, was sie als „Kind einer jüdischen Familie an jüdischem Menschentum kennengelernt“ hatte, weil „Außenstehende so wenig über diese Tatsachen wüssten“. Stein hatte diese Anregung zwar positiv aufgenommen, aber es gab immer Wichtigeres zu tun, als sich einem so privaten Projekt zu widmen.
Doch nun hatten die neuen Machthaber in ihrem Bestreben, alles und jeden gleichzuschalten, begonnen, in das privateste Refugium des Einzelnen mit grellem Scheinwerfer hineinzuleuchten, weil sie wussten, dass eben das Private das Residuum und der Quell der Freiheit ist. Die totale Indoktrination begann bei der Jugend, deshalb blickte Edith Stein in ihrem Vorwort besonders auf sie, die „heute von frühester Kindheit an im Rassenhass erzogen“ und von jeder Information über die Wirklichkeit jüdischen Lebens „abgeschnitten“ wurde.
Die zweite Aufgabe, die in den Tagen ihres Besuchs in Breslau vor ihr stand, zeigte sich als ungleich schwieriger. Sie musste ihrer Mutter, einer streng gläubigen Jüdin, mitteilen, dass sie sich dazu entschlossen hatte, Karmelitin zu werden und in den Kölner Karmel einzutreten. Die Entscheidung für diesen Orden bedeutete den endgültigen Abschied von ihrer Familie. Edith Stein würde mit ihrem Beschluss nicht mit der Tür ins Haus fallen, darin war sie sich sicher. Die 83-jährige Frau litt ohnehin schon unter dem Zusammenbruch von all dem, was ihr Leben ausmachte: unter dem Untergang bürgerlichen Lebens, den Demütigungen, den Herabsetzungen, dem Verlust von allem, was für sie in dem Wort „Preußen“ zusammengefasst war. Bei allem, was sie in ihrem langen Leben erlebt hatte, ging es ihr nicht in den Sinn, dass es „so schlechte Menschen geben könne“.
Edith Stein wollte, um sich ihrer Mutter zu offenbaren, eine günstige Situation abpassen. Doch zuvor würde sie das Projekt verfolgen, das angesichts der politischen Umstände für sie an Bedeutung gewann. Die Autobiografie beginnt mit einem in seiner Einfachheit und Offenheit genialen Satz: „Der Vater meiner Mutter, Salomon Courant, ist im Jahr 1815 geboren.“ Drei Jahre zuvor, 1812, war den Juden in Preußen als Teil der Stein-Hardenbergschen Reformen das volle Bürgerrecht zuerkannt worden. In diesem Jahr erhielten auch die Steins und die Courants das preußische Bürgerrecht. Salomon Courant wurde schon als preußischer Bürger geboren.
Verbundenheit mit Preußen
Im historischen Rückblick wird der preußische Militarismus gern als das Wesentliche an Preußen überbetont, und dabei die Verdienste, die sich Preußen im Rahmen der Toleranz und der Aufklärung erwarb, unterschätzt. Im engen Austausch mit den Aufklärern, mit Immanuel Kant, mit Friedrich Nicolai, mit Gotthold Ephraim Lessing, entwickelte sich die jüdische Aufklärung, die Haskala, durch das Wirken von Moses Mendelssohn und David Friedländer. Im „Antimachiavell“ hatte Kronprinz Friedrich, der spätere große König, 1740 geschrieben: „Es gibt kein Gefühl, das so untrennbar mit unserem Wesen verbunden ist, wie das der Freiheit ... denn da wir alle ohne Ketten geboren werden, verlangen wir danach, ohne Zwang zu leben.“ Schließlich unternahmen die preußischen Reformer um Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein und den Staatskanzler Fürst Karl August von Hardenberg beherzte Schritte zur Emanzipation der Juden.
Aus diesem Grund wuchs unter den Juden in Preußen eine große Verbundenheit mit dem Königreich. In ihrem Lebenslauf für die Promotion schrieb Edith Stein 1916 ganz selbstverständlich: „Ich bin preußische Staatsangehörige und Jüdin.“ Nach der Reichseinigung boomte Deutschland und auch Schlesien. Breslau wurde zur bedeutenden Metropole des Kaiserreiches. Der Maschinen- und Waggonbau, die Chemie- und Textilindustrie prosperierten, aber auch das universitäre Leben und die Kultur erlebten einen großartigen Aufschwung. Dieser war auch verbunden mit moderner Stadtplanung und Architektur. So wurde im Jugendstil um 1900 das Warenhaus „Barasch“ errichtet und Hans Poelzig, der in der Architektur zunächst den expressionistischen Stil, dann die Neue Sachlichkeit vorantrieb, erbaute 1914 den Konzertsaal. Rabbiner konnten in Breslau mit der Gründung des Jüdisch-Theologischen Rabbinerseminars der Fraenkelschen Stiftung ab 1854 ausgebildet werden. Nach Berlin lebte in Breslau die zweitgrößte jüdische Gemeinde im deutschen Kaiserreich.
Den Vater hatte Edith Stein nicht kennengelernt, denn Siegfried Stein starb kurz nach ihrer Geburt und hinterließ seiner Frau die Sorge um die sechs Kinder und um einen überschuldeten Holzhandel. Auguste Stein war eine kluge und durchsetzungsfähige Frau, die als Matriarchin die Familie zu Wohlstand führte und bald schon als bester Holzhändler Breslaus galt.
Optimismus einer Ära des Aufbruchs
In einer deutsch-preußisch-liberalen Familie aufgewachsen begann Edith Stein, 1911 an der Universität Breslau Germanistik, Geschichte, Philosophie und Psychologie zu studieren. Sie geriet ins Umfeld des Psychologen William Stern. In Sterns Seminar kam Edith Stein mit denjenigen in einen intensiven Austausch, die Lehrer werden wollten. Die jungen Leute, auch Edith Stein, trieb ein tatkräftiger Optimismus an, alles sollte besser werden. Es waren die wundervollen Jahre der Jugendbewegung, der Schulreform, der Lebensreform.
Doch das Studium in Breslau befriedigte sie bald immer weniger. Als sie für Sterns Seminar einen Vortrag erarbeitete, sagte der Kommilitone Georg Moskiewicz zu ihr: „Lassen Sie doch all das Zeug“ und reichte ihr Edmund Husserls „Logische Untersuchungen“. Durch die Lektüre begriff sie, dass sie sich nicht für Psychologie, sondern für Philosophie interessierte.
In Göttingen studierte sie bei Husserl, wurde über den Begriff der Einfühlung promoviert und arbeitete, nachdem Husserl nach Freiburg gewechselt war, als dessen Assistentin. Bald schon musste sie sich eingestehen, dass ihr „lieber Meister“ ihre Arbeitskraft nach Kräften ausnutzte, aber nichts für ihre wissenschaftliche Karriere tat. Sie kündigte Husserl, ihr Nachfolger wurde Martin Heidegger. Steins Bemühungen, sich zu habilitieren, schlugen aus zwei Gründen fehl: erstens weil sie eine Frau und zweitens weil sie jüdischer Herkunft war.
Einmal sollte sie sich noch in Breslau engagieren, als Mitbegründerin der Deutschen Demokratischen Partei, der Partei Walther Rathenaus. Doch Parteipolitik, Hinterzimmerintrigen waren nicht ihre Welt, sodass sie sich schon bald wieder zurückzog: „Die Politik habe ich satt bis zum Ekel. Es fehlt mir das übliche Handwerkszeug dazu völlig: ein robustes Gewissen und ein dickes Fell. Immerhin werde ich bis zu den Wahlen aushalten müssen, weil es zu viel notwendige Arbeit gibt. Aber ich fühle mich gänzlich entwurzelt und heimatlos unter den Menschen, mit denen ich zu tun habe. Wenn ich mich von all dem Wust freimachen kann, dann will ich versuchen, eine Habilitationsschrift zu machen. In dem ,neuen Deutschland‘ – ,falls es ist‘ – wird ja die Habilitation keine prinzipiellen Schwierigkeit mehr machen.“ Doch auch in dem neuen Deutschland wird sie sich nicht habilitieren können, weil sie eine Frau und weil sie Jüdin ist.
Rückzug ins Kloster
Die Frage nach dem Aufbau der menschlichen Person, danach, was der Mensch ist, trieb immer stärker ihre philosophischen Überlegungen an. Sie beschäftigte sich mit der mystischen Philosophie des Dionysios Aeropagita, mit der Scholastik, vor allem mit Thomas von Aquin, geriet über die Phänomenologen-Freunde mit dem Neothomismus in Berührung. Im Herbst 1933 zog sich Edith Stein in den Karmel von Köln zurück, um Karmelitin zu werden. Im Kloster verfasste sie zwei große Werke, ihr philosophisches Hauptwerk „Endliches und ewiges Sein. Ein Aufstieg zum Sinn des Seins“ und die zutiefst mystische „Kreuzeswissenschaft“.
Steins philosophisches Hauptwerk wird gerade in unserer Zeit wichtiger denn je, stellt es doch die Antithese zu Heideggers „Sein und Zeit“ dar, den anderen philosophischen Weg von Husserl weg. Von Husserl zieht sich eben doch eine gerade Linie über Heidegger, Foucault und Derrida zum „Wokismus“, zur Identitätspolitik, zum Genderismus. Stein versuchte hingegen, Wissen und Glauben, Philosophie und Theologie in einen neuen Einklang zu bringen. Im Gegensatz zu Heidegger, der das Ich als in die Existenz geworfen betrachtet, sieht sie das Ich als ein empfangenes Ich, das Anteil an Gottes Ewigkeit hat. Geschöpflichkeit statt Geworfenheit. Der Mensch hat Teil am Sinn des Ganzen, nicht seine Geworfenheit ist das letzte Wort, sondern seine Geschöpflichkeit, denn, wo jemand geworfen wird, da muss es auch einen Werfer geben.
Am 6. April 1968 kam es in Krakau zu einer bemerkenswerten Episode. Roman Ingarden hielt auf Einladung des Kardinals Karol Wojtyła, des späteren Papstes Johannes Paul II., vor geladenen Gästen einen Vortrag über das Leben und Werk von Edith Stein. Karol Wojtyła mag in Edith Stein, die in einer jüdischen Familie in Breslau geboren wurde, die zum Katholizismus konvertierte, den Schleier nahm und die schließlich die Nationalsozialisten am 9. August 1942 in Auschwitz aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ermordeten, eine Brückenbauerin zwischen Judentum und Christentum gesehen haben, eine Märtyrerin und Heilige war sie für ihn ohnehin.
Info
Dr. Klaus-Rüdiger Mai ist Schriftsteller und Publizist. Zuletzt erschien seine Biographie „Edith Stein – Geschichte einer Ankunft. Leben und Denken der Philosophin, Märtyrerin und Heiligen“ (Kösel 2022).