Als Finnland nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig auf den größten Teil Kareliens vor allem nordwestlich des Ladogasees verzichten musste, verloren mehr als 400.000 Finnen und Karelier ihre Heimat. Sie wollten nicht unter der kommunistischen Diktatur leben und flüchteten daher ins Innere des Landes, wo sie von der finnischen Mehrheitsgesellschaft mit großer Empathie aufgenommen wurden.
Die Trauer um den kulturellen Verlust, den Finnland durch die Abspaltung Kareliens erlitten hatte, bewegte und bewegt das gesamte Land bis heute. Unter dem Motto „Wir sind alle Karelier“ wurden in mehreren Orten des Landes volkskundliche und kriegshistorische Museen eingerichtet. Sie erinnern an die historischen Ereignisse und die Kultur der Karelier und sind in ganz Finnland überaus anerkannt.
In Deutschland findet sich eine solche Solidarität der westdeutschen Bevölkerung mit den Vertriebenen aus Ostdeutschland und ihrer Kultur eher selten. Der vom NS-Regime herbeigeführte Zweite Weltkrieg und der Holocaust an den Juden werden von vielen Menschen im Zusammenhang mit diesen Verlusten gesehen. Sie erschweren das differenzierende Empfinden dieses von den Vertriebenen erlittenen Unrechts und verhindern so das Trauern um die kulturellen Verluste.
Umrisstafeln des geteilten Landes
Eine Ausnahme bildete der im Jahre 1903 geborene Versicherungskaufmann Heinrich Wilhelm Ahrens, ein Bremer Kaufmann in 13. Generation. Er hatte den Zweiten Weltkrieg von Beginn an mitmachen müssen und war im Juni 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten. 1954 zurückgekehrt, baute er sein Unternehmen wieder auf und errichtete auf seinem Grundstück in sehr zentraler Lage, unmittelbar an der Böttcherstraße, auch das im Krieg zerstörte Geschäftshaus wieder neu.
Das Gebäude verzierte er 1970 mit Umrisstafeln in den Formen des mehrfach geteilten Deutschlands. Diese Tafeln enthalten unzweideutige historische Aussagen, die dem offiziellen Bremen offenbar unangenehm sind. Sie werden in keinem Reiseführer erwähnt und auch die Bremer Medien vermeiden es, ihre Existenz in irgendeiner Form zu nennen.
1993 recherchierte ich die Entstehungsgeschichte mehrerer bremischer Erinnerungszeichen an die Vertreibung und die ostdeutschen Heimatgebiete der Vertriebenen, um darüber einen Beitrag im 1994 erschienenen Jahresheft der Landsmannschaft Ostpreußen, „Ostpreußen in Bremen 1993“ zu veröffentlichen. In diesem Zusammenhang wandte ich mich auch an Heinrich Wilhelm Ahrens und fragte ihn nach den Hintergründen der Entstehung der Tafeln an seinem Haus an der Martinistraße, einer Hauptverkehrsstraße in Bremens Altstadt.
Ich erhielt den folgenden Antwortbrief: „Die Deutschland-Tafeln am Hause Martinistraße 27/Kirchenstraße 3 in Bremen: Als die Franzosen 1871 nach dem verlorenen Krieg und der Gründung des Deutschen Reichs Elsaß und Lothringen an Deutschland zurückgeben mußten, errichteten sie in Paris zur Erinnerung daran die bekannte schöne Marmorgruppe zweier junger Mädchen in der Nationaltracht der beiden Länder. Diesem Beispiel bin ich gefolgt, als ich 1970 an der Nordseite des Hauses durch den aus Elbing stammenden Bildhauer Mrosowsky aus englischem Schiefer die Deutschland-Tafeln gestalten und anbringen ließ. Ich wollte damit den abgetrennten, seit 800 Jahren deutschen Ländern Ostpreußen, Pommern und Schlesien, immerhin ein Viertel des alten Reichsgebiets, ein Denkmal setzen und die Unnatürlichkeit und Unerträglichkeit der Spaltung Deutschlands zum Ausdruck bringen.
Die Schaffung eines solchen Denkmals erschien mir umso notwendiger, als offensichtlich wohl amtliche Stellen, wie auch die Medien, die Schulen und Parteifunktionäre in dem Bemühen wetteiferten, das Deutsche dieser drei Länder immer mehr vergessen zu lassen.
Mit den Tafeln sollte nicht nur ein Denkmal für diese drei Länder gesetzt werden, sondern auch für die Menschen, die darin seit vielen hundert Jahren gelebt und zum Teil große Leistungen vollbracht haben. Ihrer sollte gedacht werden, der Vertriebenen und der Heimatberaubten und der dabei Getöteten.
Erinnern an Gemeinsamkeiten
Die große historische und kulturelle Gemeinsamkeit wird durch die in weißer Farbe auf dem grauen Schiefer markierten symbolischen Bilder betont: Die Marienburg als Kern des deutschen Ostens, das Stralsunder Tor, das Breslauer Rathaus, das Brandenburger Tor, die Wartburg als Ursprung der alle vereinenden deutschen Hochsprache durch Luther, der Bremer Schlüssel, der Aachener Kaiserdom in Erinnerung an Karl den Großen, als erstem Europäer und gemeinsamen Kaiser der Deutschen und Franzosen, und die Münchener Frauenkirche.
Die einzigen drei Worte:,keyn unglück ewigk‘ sind der Fahnenspruch des ältesten Brandenburg-Preußischen Regiments des Obersten Hildebrandt von Kracht, […]
Daß an diesem alten Fahnenspruch etwas Wahres ist, hat sich inzwischen erwiesen. Die Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990 war ein großartiger Anlaß für eine Ergänzung der Tafeln, indem um die beiden wiedervereinigten Teile Deutschlands ein Ring aus einem glänzendem Spezialstahl gelegt und aus dem gleichen Material das historische Datum eingefügt wurde.
Kein Verbot im Gesetz verankert
Unvermeidlich war dabei der Nachteil, daß die außerhalb dieses Stahlrings verbliebenen Tafeln für Ostpreußen, Pommern und Schlesien nunmehr optisch verloren. Um dieses auszugleichen und den jetzt besonders wichtigen verbleibenden Erinnerungswert auszugleichen, habe ich unter Verzicht auf die Nutzung als lukrative Reklamefläche auf der Westseite des Hauses in 70 cm großen aus dem gleichen Spezialstahl gefertigten Buchstaben die Worte Ostpreußen, Pommern und Schlesien angebracht. Das zuständige Ortsamt, das zunächst von der für die Genehmigung der Anbringung zuständigen Behörde befragt werden mußte, hatte das Projekt mit der Begründung abgelehnt, es sei revanchistisch und geeignet, polnische Gefühle zu verletzen. Die Behörde mußte die Anbringung trotzdem genehmigen, weil es leider in Deutschland kein Gesetz gäbe, wonach es verboten ist, die drei Worte Ostpreußen, Pommern und Schlesien in deutscher Sprache auszusprechen, oder, wenn es einem Spaß macht, an die Wände des eigenen Hauses zu schreiben. Jetzt stehen sie da, ohne jeden Zusatz, und jeder, der sie liest, kann sich dabei denken, was er will.“
Ahrens setzte sich zeitlebens mit großem Engagement für die deutsch-russische Verständigung ein. Er wurde 99 Jahre alt und starb am 5. Dezember 2002 in Bremen.
Die Deutschland-Tafeln an seinem Haus werden von seinen Erben bis heute in seinem Sinne erhalten. Die Umrisstafeln daran können heutzutage allerdings nur unter Inkaufnahme eines ungünstigen Blickwinkels besichtigt und fotografiert werden. Die Baubehörde genehmigte vor wenigen Jahren den Neubau des Atlantic Grand Hotels in der unmittelbaren Nachbarschaft mit einem sehr geringen Abstand zum Ahrens-Haus.