27.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Folge 49-22 vom 09. Dezember 2022 / Neue Ostpolitik / Versuch einer Normalisierung des Unnormalen / Vor einem halben Jahrhundert unterzeichneten Egon Bahr und Michael Kohl den Grundlagenvertrag

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-22 vom 09. Dezember 2022

Neue Ostpolitik
Versuch einer Normalisierung des Unnormalen
Vor einem halben Jahrhundert unterzeichneten Egon Bahr und Michael Kohl den Grundlagenvertrag
Wolfgang Kaufmann

Nach der Wahl zum 6. Deutschen Bundestag vom 28. September 1969 begann der neue Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) eine „Neue Ostpolitik“ gegenüber der DDR und den übrigen Staaten des Sozialistischen Lagers. Sie setzte auf „Wandel durch Annäherung“, ein Prinzip, das der sogenannte Architekt der Ostverträge Egon Bahr bereits im Juli 1963 formuliert hatte. Den ersten Meilenstein auf diesem Wege bildete der Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik, in dem letztere den Status quo in Europa und damit auch die territoriale Integrität der DDR anerkannte. Dadurch wurden nun direkte Verhandlungen zwischen Bonn und Ost-Berlin zur Vorbereitung eines Übereinkommens über die zukünftige Gestaltung der bilateralen Beziehungen möglich.

Die Gespräche begannen schon vor der Ratifizierung des Moskauer Vertrages im Frühsommer 1972 und verliefen ausnehmend zäh. Dies lag daran, dass beide Seiten schwer zu vereinende Positionen vertraten. Die DDR verlangte eine völkerrechtliche Anerkennung ohne Wenn und Aber, und die Bundesrepublik hielt am grundgesetzlich verankerten Gebot der Wiedervereinigung fest. 

„Wandel durch Annäherung“

Schließlich einigten sich die Verhandlungsführer, der Staatssekretär im Bundeskanzleramt Bahr und der Staatssekretär im DDR-Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten Michael Kohl, auf folgende Formeln, die in insgesamt zehn Artikel gegossen wurden: Man wolle „normale gutnachbarliche Beziehungen“ auf gleichberechtigter Basis. Dazu gehöre auch der Austausch Ständiger Vertreter. Die Hoheitsgewalt beider Staaten beschränke sich jeweils auf ihr Territorium. Die „Unabhängigkeit und Selbständigkeit“ von DDR und Bundesrepublik in ihren „inneren und äußeren Angelegenheiten“ sei gegenseitig zu respektieren. Keiner der beiden Staaten dürfe „den anderen international vertreten oder in seinem Namen handeln“. Im Zuge der Normalisierung der bilateralen Beziehungen gelte es nun, diverse „praktische und humanitäre Fragen“ zu regeln und Abkommen „auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik, des Verkehrs, des Rechtsverkehrs, des Post- und Fernmeldewesens, des Gesundheitswesens, der Kultur, des Sports, des Umweltschutzes und auf anderen Gebieten“ zu schließen. Außerdem werde man sich „von den Zielen und Prinzipien leiten lassen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind“, „Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen“ und „zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa beitragen“ sowie auch die gemeinsame Grenze „jetzt und in der Zukunft“ als unverletzlich anerkennen. 

Der dergestalt lautende Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR wurde am 21. Dezember 1972 von Bahr und Kohl in Ost-Berlin unterzeichnet. Nach der Ratifizierung durch Bundestag und Volkskammer trat er am 21. Juni 1973 in Kraft. 

Auf beiden Seiten herrschte keineswegs nur Euphorie. Während sich Staats- und Parteichef Erich Honecker zufrieden zeigte, dass der westliche Nachbar bereit gewesen war, seinen Alleinvertretungsanspruch aufzugeben, befürchtete Stasi-Chef Erich Mielke neue Arbeit für seine Untergebenen. Und Egon Bahr gab sich bescheiden: „Bisher hatten wir keine Beziehungen, jetzt werden wir schlechte haben – und das ist der Fortschritt.“ 

Letzteres sah die oppositionelle CDU/CSU anders. So meinte deren Fraktionsvorsitzender Rainer Barzel: „Dieser Vertrag legitimiert ein Unrechtssystem und eine unmenschliche Grenze mit Tötungsanlagen. Wir können dies nicht mitmachen, denn das erschwert den Kampf der Demokraten für die Sache der Freiheit in Deutschland und in Europa. Wir lehnen diesen Vertrag ab.“ Außerdem verwiesen die Kritiker darauf, dass der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag keine Regelungen zu offenen Vermögensfragen enthalte und wie auch schon zuvor der Moskauer Vertrag mit seiner Anerkennung der europäischen Grenzen auf eine endgültige Aufgabe der Oder-Neiße-Gebiete hinauslaufe. Deshalb hatten die 217 christdemokratischen und christsozialen der insgesamt 518 Bundestagsabgeordneten sowie sämtliche Bundesländer mit von der Union geführten Regierungen gegen die Ratifizierung gestimmt.

„Gutnachbarliche Beziehungen“

Das von der bayerischen Landesregierung angestrengte Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht blieb erfolglos. Karlsruhe wies die Klage am 31. Juli 1973 ab. Die Richter urteilten, dass der Vertrag nicht als Zustimmung zur Teilung Deutschlands zu werten sei, sondern nur eine „faktische Anerkennung besonderer Art“ der DDR darstelle. Insofern stehe der Weg zu der vom Grundgesetz geforderten deutschen Wiedervereinigung weiter offen. 

Im Geiste des Grundlagenvertrages bewarben sich die Bundesrepublik und die DDR um eine Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen. Am 18. September 1973 wurden beide deutschen Staaten aufgenommen. Zum 2. Mai des Folgejahres öffneten die vereinbarten Ständigen Vertretungen. Erster Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR wurde der bisherige Staatssekretär im Bundeskanzleramt Günter Gaus (SPD). Umgekehrt entsandte die Ost-Berliner Führung ihren vormaligen Verhandlungsführer Kohl nach Bonn.  Gaus folgten 1981 sein Parteifreund Klaus Bölling, 1982 der parteilose Hans-Otto Bräutigam und 1989 der Christdemokrat Franz Bertele. Kohl folgten 1978 Ewald Moldt und 1988 Horst Neubauer. 1990 kam dann das Ende eines der beiden Vertragspartner und damit auch der Ständigen Vertretungen.