26.04.2024

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Folge 51-22 vom 23. Dezember 2022 / Der Frust sitzt tief / In den Berichten über den verhinderten „Reichsbürger“-Putsch ging unter, dass die Verärgerung über die Zustände im Land längst auch Teile der politischen Mitte erfasst hat. Die Gräben zwischen den Zufriedenen und Unzufriedenen werden größer

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-22 vom 23. Dezember 2022

Der Frust sitzt tief
In den Berichten über den verhinderten „Reichsbürger“-Putsch ging unter, dass die Verärgerung über die Zustände im Land längst auch Teile der politischen Mitte erfasst hat. Die Gräben zwischen den Zufriedenen und Unzufriedenen werden größer
Werner J. Patzelt

Wie gut für Deutschland! Unsere wachsame Regierung schaffte es, einen Putsch zu verhindern. Von 3000 Polizisten wurden gut zwei Dutzend Verschwörer verhaftet, darunter ein 71-jähriger Adeliger, ein früheres Bundestagsmitglied und ein früherer Kommunalpolitiker der rechtsstehenden AfD, zwei im Ruhestand befindliche höhere Offiziere der Bundeswehr, ein aktiver Unteroffizier eines Elitecorps, ein früherer höherer Kriminalbeamter, ein Koch, ein Opernsänger, ein Pilot, ein Rechtsanwalt und ein Dachdecker. 

Des Umsturzversuchs beschuldigt werden gut fünfzig Leute, unterstützt von womöglich weiteren fünfzig. Gefunden wurden – neben Munition und viel Geld – an die neunzig Waffen, darunter gut sechzig bei einem der Mittäterschaft beschuldigten Waffenhändler. Von denen waren zehn nicht in legalem Besitz. Allzu imposant war jener „militärische Arm“ der Putschisten also nicht, von dem 286 erst noch aufzustellende „Heimatschutzkompanien“ geführt werden sollten. Ob es wohl unter den Rechtsbegriff des „untauglichen Versuchs“ fällt, dass die Verhafteten den Bundestag zu stürmen, Politiker zu ermorden und die Macht im Land zu übernehmen trachteten?

Sie alle waren Mitglieder oder Anhänger der „Reichsbürgerbewegung“. Das ist ein Kreis von derzeit gut 22.000 Leuten, welche die Bundesrepublik Deutschland nicht für einen Staat, sondern für eine in Frankfurt registrierte Firma halten. Die sei weiterhin unter der Kontrolle der (westlichen) Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, was man der Bevölkerung aber verhehle. Jedenfalls gäbe es hierzulande keine legitime politische Autorität. Deshalb seien alle patriotischen Deutschen aufgerufen, ihr nie untergegangenes Reich neu aufzurichten. Offen ist für solche Leute nur, wer wohl genau und wann die Macht ergreifen soll. Bislang machten die „Reichsbürger“ in diesem Zusammenhang ihre Erfahrungen mit mindestens einem selbsternannten König, einer provisorischen Reichsregierung und manchen lächerlichen „offiziösen Dokumenten“ jenes imaginierten Reiches.

Fragen an ein denkwürdiges Ereignis

Was sagt es freilich über einen Staat, dessen Regierung stolz verkündet, sie habe die Republik vor Leuten gerettet, die der ehemalige grün-sozialdemokratische Innenminister Otto Schily schlicht eine „skurrile Spinnertruppe“ nannte? Was besagt es über Deutschlands Sicherheitsorgane, dass ziemlich viele Journalisten jeweils vor Ort waren, als etwa Leute wie Prinz Heinrich XIII. von Reuß-Köstritz verhaftet wurden, vorgesehen als künftiges Staatsoberhaupt? Und was sagt es über Deutschlands öffentlich-rechtliches Fernsehen, dass es sofort Sondersendungen über die erfolgreiche Abwehr eines scheinbar unmittelbar bevorstehenden Staatsstreichs gab?

Als naive Reaktion bietet sich große Erleichterung an. Immerhin ist unsere Demokratie ja wirklich gerettet worden – wenn auch nicht ganz so dramatisch wie im März 1920, als der anti-republikanische Kapp-Putsch innerhalb von vier Tagen niedergeschlagen wurde, oder wie im November 1923, als Hitlers Umsturzversuch innerhalb eines einzigen Tages scheiterte. Wie gut, dass sich heute alle etablierten Medien, gemeinsam mit den allermeisten Politikern, unentwegt im „Kampf gegen rechts“ engagieren! Deshalb wird der gerade errungene antifaschistische Sieg nicht so vergeblich sein wie zu Weimarer Zeiten die Verteidigung der Demokratie. 

Doch es bei solcher Ironie zu belassen, wäre unangemessen. Sowohl im Treiben der „Reichsbürger“ als auch in jener Polizeiaktion mitsamt ihrer politischen-medialen Nachbereitung werden nämlich tiefgreifende Probleme unserer politischen Kultur sichtbar. Schon die „Reichsbürgerbewegung“ selbst ist ein Warnsignal. Wie beschädigt muss bereits das Selbstbild eines Volkes sein, aus dessen Reihen Tausende die Existenz ihres eigenen Staates bestreiten? Wie kann es sein, dass ein Bundesstaat mit nicht weniger als 17 Ämtern für Verfassungsschutz, der obendrein jährlich Milliarden Euro für politische Bildungsprojekte und soziale Absicherungsprogramme ausgibt, sich anscheinend wirklich von Leuten und Vorgängen bedroht empfindet, die bestens in eine Operette passten? 

Spitze einer breiten Frustration

Ist es wohl möglich, dass jene, die unser Land regieren, endlich doch bemerken, dass die von ihnen so lautstark bekämpften Rechtspopulisten gleichsam nur die Spitze eines ganzen Eisberges sind, der aus tiefempfundener und weithin geteilter Frustration wirklich sehr vieler Leute über schlecht laufende Elitenprojekte zur Umgestaltung Deutschlands besteht – etwa der recht untätig hingenommenen selbstermächtigten Einwanderung von jährlich vielen Zehntausenden in Deutschlands Sozialsysteme, oder einer Energiepolitik, die Deutschlands Industrie und Arbeitsplätze gefährdet?

Vermutlich wirkt da auch echte Furcht vor der AfD als einer Partei, zu deren Alleinstellungsmerkmalen es gehört, ungefiltert und ungeschönt auch jenen Besorgnissen von Bürgern Ausdruck zu geben, die öffentlich anzusprechen als politisch unkorrekt gilt und von den Bütteln unserer Unterbindungs- und Ausgrenzungskultur lustvoll bestraft wird. Vielleicht wäre ohnehin die ganze Geschichte von der Unterbindung jenes Staatstreichs als die höchst offizielle Ankündigung unserer Regierung zu „lesen“, dass jene Zeiten nun vorbei sind, in denen es noch politische Auseinandersetzungen zwischen den „Anständigen“ und den „Unanständigen“ im Lande geben durfte – und dass fortan Lenins Frage „Wer-wen?“ ganz handfest zu beantworten ist. Oder fand die Regierung einfach eine gute Gelegenheit, die öffentliche Aufmerksamkeit wegzuziehen von unseren Problemen mit Energieversorgung und Energiepreisen, von Deutschlands unzulänglicher Verteidigungskraft und von jenen Gefährdungen unserer inneren Sicherheit, die sich der weiterhin kaum kontrollierten Zuwanderung verdanken?

Natürlich sollten wir nicht unsererseits Verschwörungstheorien aufsitzen. Gönnen wir einfach unserer Regierung die Freude, eine ganz praktische Verschwörung aufgedeckt zu haben. Gerade deshalb gilt es aber ernstzunehmen, dass tatsächlich enge Bande bestehen zwischen der „Reichsbürgerbewegung“ und vielen Anhängern der AfD sowie einigen ihrer Funktionäre, und wohl auch hin zu etlichen Angehörigen von Deutschlands Armee und Polizei. 

Tiefe Gräben zwischen den Zufriedenen und den Unzufriedenen

Vor allem aber können wir einmal mehr die Spaltung erkennen zwischen denen, die unser Land auf einem guten Weg wähnen, sowie jenen, die ganz und gar nicht dieser Meinung sind. Nachgerade persönlichen Hass scheint es inzwischen zu geben zwischen den Verteidigern und den Herausforderern von Deutschlands gegenwärtigem politischen System, politischem Stil und konkreten Politikzielen. Vor diesem Hintergrund kann man sich die jüngste Razzia gegen die „Reichsbürger“-Szene samt den zunehmenden Versuchen einer nicht nur Isolierung, sondern auch politischen Kriminalisierung der AfD sogar als Teile desselben Puzzles vorstellen.

Überhaupt war der „bevorstehende Putsch“ nur die neueste Folge jener ganz falschen politischen Reaktionen, mit denen Deutschlands Medien und Politikerschaft von Angela Merkels CDU bis hin zur Linken auf jene besorgten Bürgerinnen und Bürger reagiert haben, die sich im Winter 2014/15 auf Dresdens Straßen bemerkbar machten, später bundesweit zu „Wutbürgern“ wurden, und die alsbald unserem Regierungssystem samt den es tragenden Parteien innerlich zu kündigen begannen. Angesichts ihrer wurde „Querdenker“ von einem lobend gemeinten Begriff für kritische Linke zu einem Schimpfwort für protestierende Nicht-Linke. 

Die wiederum setzen nun allen Ernstes ihre Hoffnungen in die AfD – und zwar weniger, weil sie ihr mehr zutrauten als den längst etablierten Parteien, sondern weil sich Verachtung für unser Establishment derzeit nicht schmerzender ausdrücken lässt als durch das Wahlkreuz bei der AfD. Zu ihm treibt durchaus nicht immer jener Rassismus, in dem man zur hohen Zeit von PEGIDA den Schlüssel zum Verständnis des neuerlichen Systemprotests gefunden zu haben glaubte. Dazu treibt auch eher selten jener Nazismus, den Russlands Präsident inzwischen sogar der ganzen ukrainischen Regierung zuschreibt. Auch die Rede vom Rechtspopulismus ist meist eher hilflos als erkenntnisträchtig. 

Die Ignoranz der politischen Eliten

Besser verstünde man, was nun leider seit etlichen Jahren in unserem Land vorgeht, entlang einer Bereitschaft, die Zukunftsängste der deutschen Mittelschichten wirklich 

ernstzunehmen und von den bislang problemverschärfenden Fehlreaktionen auf Bürgerproteste endlich abzulassen. Nicht die Protestierenden delegitimieren nämlich unseren Staat an erster Stelle, sondern das besorgen solche Politiker, die ihren Aufgaben nicht gewachsen sind oder weiterhin jugendlichen Illusionen nachlaufen. 

Politische Vernunft würde nahelegen, alle jene Probleme ehrlich anzusprechen und redlich zu diskutieren, die zu Deutschlands derzeitiger innenpolitischen Polarisierung geführt haben. Doch solche inhaltlichen Auseinandersetzungen sind während des letzten Jahrzehnts sowohl vermieden als auch verhindert worden. Zuvor hatte sich eine Repräsentationslücke aufgetan zwischen der politischen Linken und der sich allein auf die politische Mitte beschränkenden Union auf der einen Seite sowie Deutschlands weit rechts eingestellten Leuten auf der anderen Seite. In dieser Repräsentationslücke begann die AfD zu gedeihen, und in ihr lässt sie es sich weiterhin gutgehen. Heute ist die AfD die stärkste Partei in Ostdeutschland, und in vielen Regionen Westdeutschlands ist sie stärker als die Liberalen. Zugleich ist für die kommenden Jahre jede Hoffnung vergeblich, die AfD wäre fähig oder gar willens, ihren Marsch auf immer radikalere Positionen einzustellen. 

Und weil außerdem die Union ihre früheren, zur AfD abgewanderten Wähler weder aufs Neue ansprechen will noch bei ihnen Gehör finden dürfte, wird für absehbare Zeit die Kluft zwischen Deutschlands politischen Lagern nicht geschlossen werden. Also sollten wir uns auf weitere Gewalttätigkeiten zwischen den einander feindlichen Heerhaufen einstellen. Zwar mag der unterbundene „Putsch“ operettenhaft gewesen sein. Doch keineswegs gilt das für die zugrunde liegenden Probleme von Deutschlands fehlerhafter und neurotischer politischer Kultur.






Prof. Dr. Werner J. Patzelt ist Forschungsdirektor am Mathias Corvinus Collegium Brüssel. Bis 2019 lehrte er Vergleichende Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Zuletzt erschien „Parlamentarismusforschung. 

Eine Einführung“ (Nomos Verlag 2020).

wjpatzelt.de