29.03.2024

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Folge 52-22 vom 30. Dezember 2022 / Silvester 2022 / Der deutsche Reformstau erreicht bedrohliche Ausmaße / Während die Liste der öffentlichen Mängel immer länger wird, entwickelt die Politik Routinen im Verdrängen der Probleme. Eine Besserung ist nicht in Sicht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 52-22 vom 30. Dezember 2022

Silvester 2022
Der deutsche Reformstau erreicht bedrohliche Ausmaße
Während die Liste der öffentlichen Mängel immer länger wird, entwickelt die Politik Routinen im Verdrängen der Probleme. Eine Besserung ist nicht in Sicht
René Nehring

Die Tage „zwischen den Jahren“ sind seit alters her eine Zeit der Besinnung und des Nachdenkens über den Lauf der Dinge. Je nach politischer und ökonomischer Großwetterlage blicken die Menschen mal mit Vorfreude und mal mit Sorge auf die vor ihnen liegenden Monate. Zur Jahreswende 2022/23 dürften bei den Deutschen die Sorgen überwiegen. Und dies weniger wegen des Krieges in der Ukraine, sondern vielmehr wegen des Zustands ihres eigenen Landes. 

Warnten aufmerksame Zeitgenossen wie Kurt Biedenkopf oder Joachim Gauck schon vor Jahren vor einer Überlastung unseres Gemeinwesens, so wird in jüngster Zeit immer deutlicher, dass die Grenzen dessen, was dieser Staat und seine Bürger tragen und ertragen können, zunehmend erreicht sind, wenn sie nicht schon längst überschritten sind. 

Die Mängelliste wird lang und länger

Wer ohne Scheuklappen durch die Republik streift, hat inzwischen Mühe, noch Bereiche zu finden, in denen es keine Probleme gibt. Das Schulwesen ist geprägt von einem Mangel an qualifizierten Lehrern und gebildeten Schülern sowie von Gebäuden, für die das Wort „marode“ längst zu klein ist. Auch das Gesundheitswesen leidet seit Jahren an einem Mangel an medizinischem Fachpersonal. Ärzte und Sanitäter, Krankenschwestern und Pfleger stöhnen regelmäßig unter unzumutbaren Bedingungen. Neu ist hier der Mangel an grundlegenden Medikamenten wie Schmerzmittel, für dessen Behebung „Gesundheitspolitikern“ nichts Besseres einfällt als ein Flohmarkt. 

Desolat auch die Lage des Rechtswesens. Schon vor Jahren beklagte der damalige Vorsitzende des Deutschen Richterbunds, Jens Gnisa, in einer Streitschrift die Überlastung der Staatsanwaltschaften und Gerichte und warnte vor einem Ende des Rechtsstaats. Geändert hat sich nichts, zumindest nicht zum Besseren. Ein Trauerspiel ist auch die öffentliche Infrastruktur. Während noch immer ganze Landstriche in einem Funkloch hängen, gelten im Straßenverkehr inzwischen bundesweit 4000 Brücken als sanierungsbedürftig. Der Zustand der Bahn ruft nur noch Resignation hervor, gerade bei denen, die regelmäßig mit dem Zug durch deutsche Lande fahren. 

Der Ukrainekrieg rückte endlich auch das Elend der Bundeswehr in den Fokus der Öffentlichkeit, das zwar unter Soldaten und wenigen interessierten Fachpolitikern längst bekannt war, aber kaum jemanden in den Medien und unter den Entscheidern des politischen Geschäfts interessierte. Nach dem Erschrecken darüber, dass Staaten auch im 21. Jahrhundert auf umfassende Verteidigungsfähigkeiten angewiesen sind, ließen jedoch die Bemühungen zur Behebung der erkannten Mängel auch schnell wieder nach. 

Wohlgemerkt: Diese und viele weitere Befunde entstammen nicht den Klagen von Lobbyverbänden, die routinemäßig mehr Geld verlangen, sondern den nüchternen Lagebeschreibungen von Leuten, die es gut meinen mit diesem Land, seinen Leuten und auch seinem politischen System. Und die Notrufe stammen auch nicht von der Opposition, die von Haus aus zum Kritisieren da ist, sondern durchaus aus dem Umfeld der politisch Verantwortlichen. So veröffentlichte die „Deutsche Welle“, die als Auslandsrundfunk der Bundesrepublik gewiss nicht im Verdacht übermäßiger Regimekritik steht, dieser Tage unter der Überschrift „Ein Land funkt SOS – Deutschland an der Belastungsgrenze“ eine geradezu vernichtende Schilderung der deutschen Zustände. 

Angesichts der Länge der Mängelliste ist kaum vorstellbar, dass sich in absehbarer Zeit die Dinge zum Besseren wenden werden. Die Politik hat in den vergangenen Jahrzehnten erstaunliche Routinen darin entwickelt, Probleme entweder auszublenden oder – falls sie doch einmal auf die Tagesordnung geraten sollten – durch geschicktes „Framing“ schnell wieder wegzumoderieren. Ein bisschen Aufregung ist in Ordnung, zu viel davon schadet jedoch der guten Stimmung und droht, entweder „die Gesellschaft zu spalten“ oder „die Falschen“ profitieren zu lassen. 

Die Bürger wollen es bequem 

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Wähler gern über die Zustände klagen, im Grunde jedoch keine Veränderungen wollen; vor allem dann nicht, wenn diese Beschränkungen ihrer Gewohnheiten oder Lebensverhältnisse erfordern. Als die CDU in der Opposition unter Angela Merkel zu Beginn des Jahrhunderts den Bürgern Zumutungen im Gesundheitswesen und in der Steuerpolitik ankündigte, kostete die Union dieser Mut den Wahlsieg. Als Merkel später als Kanzlerin das Prinzip der ruhigen Hand perfektionierte, wurde sie zum Liebling vieler Landsleute. Auch ihren Vorgänger Gerhard Schröder, der mit geringfügigen Korrekturen des Sozialstaatsmodells die Wirtschaft wieder flottmachte, kostete sein Mut erst den Rückhalt in der Partei und dann die Kanzlerschaft. 

Dennoch führt kein Weg an einer Sanierung des Staates vorbei. Die Geschichte lehrt, dass je länger notwendige Korrekturen vermieden werden, umso größer und teurer die Schäden werden. 

Doch wie könnte eine Lösung aussehen, die möglichst niemandem wehtut? Ein erster Ansatz wäre eine Reduzierung der Belastungen des Staates und eine Rückführung auf seine ureigensten Aufgaben. Diese sind vor allem die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit sowie einer funktionierenden Infrastruktur. Auch die Ermöglichung einer Chancengleichheit für alle Bürger in Form eines leistungsfähigen Bildungssystems sollte dazu gehören. 

Nicht dazu gehören die Anhäufung weiterer Aufgaben, vor allem im Sozialsektor. Allein im vergangenen Jahrzehnt sind die Sozialausgaben des Bundes von 146 Milliarden auf 198 Milliarden Euro geklettert und machen im kommenden Jahr 53 Prozent aller Ausgaben des Bundes aus. Dass trotz dieser Aufblähung die öffentliche Mängelliste immer länger wird, sollte den Entscheidern zu denken geben.