25.04.2024

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Folge 52-22 vom 30. Dezember 2022 / Lob der Realpolitik / Während viele Problemfelder unserer Zeit von moralischen Aspekten dominiert werden, warnten die alten Meister europäischer Staatskunst stets vor einer ideologischen Aufladung politischen Handelns. Ein Denkanstoß für die Gegenwart

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 52-22 vom 30. Dezember 2022

Lob der Realpolitik
Während viele Problemfelder unserer Zeit von moralischen Aspekten dominiert werden, warnten die alten Meister europäischer Staatskunst stets vor einer ideologischen Aufladung politischen Handelns. Ein Denkanstoß für die Gegenwart
Eberhard Straub

Ludwig August von Rochau veröffentlichte 1853 seine „Grundsätze der Realpolitik“ und führte damit einen neuen Begriff ein, der alsbald unentbehrlich und in vielen Sprachen aufgenommen wurde. Selbstverständlich hat es schon immer Realpolitik gegeben, ohne dass sie so genannt wurde. Das Wort war damals deshalb sofort erfolgreich, weil französische Aufklärer und während der Revolution von ihnen geprägte Demokraten die Politik der Kabinette und Könige, der Staatsräson verpflichtet, als künstlich und unnatürlich, und damit als unmoralisch und unmenschlich verwarfen. Sie wollten diese Politik abschaffen. Unter aufrichtigen, der Stimme ihres Herzens folgenden, unverfälschten Menschen würde sie nämlich überflüssig. Autoritäre Regierungen hätten dem Menschen sein Menschenrecht vorenthalten, sich in aller Freiheit entfalten zu können. Im Freistaat der Zukunft, in dem große Gefühle und edle Leidenschaften die vielen Vereinzelten zu einer Willens- und Verantwortungsgemeinschaft vereinigen, erübrigen sich Intrigen, Schlauheit und Lügen, die verächtlichen politischen Mittel, um den eigenen Vorteil im Nachteil der anderen zu finden. 

Im kommenden Reich der Freiheit, in dem Völker zu Brüdern werden, würde hingegen Sympathie herrschen, denn die Herzen schlügen vereint, und aller Zwist und Hader, unvermeidlich in den von egoistischen Interessen bestimmten Zeiten, würde im Glück übereinstimmender Gemüter verschwinden. Interessen, Egoismus, Parteilichkeit und alle möglichen Besonderheiten hingen mit Politik zusammen. Diese spalte und trenne und stehe der Union der Herzen, der nach Gerechtigkeit und Frieden Dürstenden, im Wege. Diese wahren, von allen Lastern befreiten, Menschen bedürften nicht mehr des Staates, sondern würden sich in einem Völkerbund zusammenschließen, in dem Menschen einander als Menschen begegnen. Der Mensch sei dann nicht mehr ein Wolf des Menschen, sondern ein Mitmensch, der den Nächsten und Fernsten so liebt, wie sich selbst. 

Solche „Gemütsergötzlichkeiten“ erwiesen sich 1793/94 während der Schreckensherrschaft der Jakobiner, konsequenter und streitbarer Menschenfreude und Demokraten, als trügerische Verheißungen, die zu Mord und Totschlag führten und darüber unterrichteten, wie Humanität und Menschenrechte zur Waffe im Vernichtungskampf gegen vermeintliche Verschwörer und Demagogen werden konnten. 

Pragmatismus statt Tugendterror

Nach dem Scheitern des französischen Menschheitsbeglückungsexperimentes und nach zwei Jahrzehnten diverser Kriege mit Frankreich ordneten die Verfechter der herkömmlichen Staatsräson und des auf ihr beruhenden Pragmatismus in den zwischenstaatlichen Beziehungen 1814/15 auf dem Wiener Kongress Europa neu. Dabei verdammten sie keine Schurken, Mörder oder Verbrecher in ihrem ehemaligen politischen Gegner und verzichteten auf Vergangenheitsbewältigung und Geschichtspolitik, weil eine künftige europäische Ordnung auf die Zusammenarbeit mit Frankreich angewiesen war. Dieses leidenschaftslose und vernünftige Abkommen ermöglichte bis 1914 eine in der europäischen Geschichte einzigartige Epoche des Friedens, nur kurzfristig unterbrochen durch Störungen, die rasch auf Kongressen behoben werden konnten wegen der Bereitschaft der führenden Staatsmänner, einander zu verstehen, die Voraussetzung, sich unaufgeregt zu verständigen. 

Mit rein politischen Mitteln, um Missverständnisse und Spannungen nicht zu verschärfen, sondern sie abzuschwächen oder zu beheben, ließ sich Stabilität bewahren, die es den Bürgern in den jeweiligen Staaten erlaubte, ihre Freiheiten in Künsten und Wissenschaften, in Industrie und Handel zu gebrauchen. Die Parolen der Revolution blieben unvergessen und wurden von allen möglichen Denkern und von deren Lehren begeisterten Studenten, Fanatikern oder Radikalen im revolutionären Kostüm mit mannigfachen Variationen weiterpropagiert. 

Die Weisheiten Bismarcks und Metternichs

Otto von Bismarck nannte deren weltfremde, theoretische Entwürfe „Professorenideen“. Als Praktiker, von Sachfragen herausgefordert, die gelöst werden mussten, um konkreten Bedürfnissen zu genügen, misstraute er allen Abstraktionen, Theorien oder Systemen. Darin war er sich mit Napoleon einig, der in den Ideologen Maulwürfe verachtete, die mit ihren Wühlarbeiten die Fundamente jeder sozialen und politischen Ordnung unsicher machten.

 Bismarcks Gegner Fürst Clemens von Metternich, der spätere österreichische Staatskanzler, der Napoleon verstehen und immer besser verstehen wollte, um deutsche und europäische Interessen verteidigen und durchsetzen zu können, war sich stets mit dem französischen Soldatenkaiser in dieser Ablehnung ideologischer Übertreibungen und Beschränktheit einig. Das verbindet ihn auch wieder mit Bismarck. Alle drei verband die Abneigung gegen die populären und unpraktischen Phrasen, die liberale, humanitäre oder ökonomische Projekteschmiede unverdrossen in Umlauf brachten. 

Der greise Metternich, den Bismarck gern besuchte und dem er aufmerksam zuhörte, resümierte 1856 diesen politischen Realismus auf klassische Weise: „Ich hasse von Natur aus die breiten Worte; die mehr als gebührend dehnbaren Begriffe, als da sind die Civilisation, die Fortschritte, das Gleichgewicht, das europäische Interesse; ich hasse den Missbrauch solcher Worte, weil ich die Sachen selbst verehre und liebe und die Letzteren durch die Ersteren gefährdet fühle.“ Bismarck sagte in diesem Sinne: Wer von Europa redet, der will betrügen. Das gilt auch für alle übrigen Schlagworte, die den Blick auf die Wirklichkeit trüben können. 

Insofern erschien es Metternich und Bismarck, diesen großen Realisten im 19. Jahrhundert, verantwortungslos, Interessen hinter erhabenen Attitüden zu verbergen. Dabei war es ihnen selbstverständlich, dass die Pflege des Ich im Staatsleben wie im Privaten Grenzen kennen muss. Leben als Zusammenleben ist immer dramatisch, weshalb es besonderer Sorgfalt bedarf, damit sich nicht aus überschaubaren Schwierigkeiten aufgrund ungeschickter oder eigenwilliger Aktionen umfassende Krisen und Verwicklungen ergeben. 

Das war vor allem Aufgabe der Diplomaten. Diese sollten sich möglichst an bewährte Ratschläge halten: strengste Wahrhaftigkeit in den Berichten, nur melden, was sicher ist, nichts aufbauschen, schroffe Urteile vermeiden und nie den Propheten und Wahrsager spielen. Entrüstung und Ranküne sind keine diplomatischen Begriffe. Der Diplomat kompromittiere keinen und erliege nicht der Versuchung, als Bußprediger, Strafrichter oder Moralphilosoph aufzutreten. Besonnenheit und Selbstbeherrschung, Geduld und Aufmerksamkeit nach allen Seiten erlauben es, der Hauptaufgabe gerecht zu werden, die Fremden und Anderen zu verstehen und angemessen zu behandeln. Vor allem aber muss sich der Diplomat stets an die goldene Regel halten: pas trop de zèle, nur keinen übertriebenen Eifer zeigen und nichts überstürzen. 

Pragmatismus statt Tugendterror

Antipathien und Sympathien, ob für Personen oder Staaten, sind aus Pflichtgefühl nicht zu rechtfertigen. Gewinnen sie ein Übergewicht, dann hört man auf, Politik zu treiben und handelt aus persönlicher Willkür, wie Bismarck mahnte. Der Krieg ist ein erlaubtes Mittel der Politik, wenn alle anderen versagten. Aber der Staatsmann sollte sich hüten, populären Stimmungen nachzugeben und dem Emotionsbedürfnis der Presse und der Parlamente oder gar Leidenschaften zu schüren, indem er, gewärmt vom Kaminfeuer, donnernde Reden hält, während der Musketier im Schnee verblutet und damit für Erfolg oder Scheitern einer leichtfertig betriebenen Politik fällt. Gerade bei Kriegen muss streng und gründlich bedacht werden, ob sie die Knochen eines pommerschen Grenadiers wert sind. Das heißt, es müssen Kriegsziele genannt werden, die auch nach dem Krieg noch überzeugen und einen ersprießlichen Frieden ermöglichen. Kriege, in denen sich einer oder einige für einen anderen aus Liebe opfern, hielt Bismarck für unwahrscheinlich, aber nicht minder verwerflich als die aus mächtigen Gefühlsaufwallungen vom Zaun gebrochenen. 

Krieg und Frieden galt Metternich und Bismarck als eine viel zu ernste Angelegenheit, um sie mit Leidenschaften zu verquicken. Es ging ihnen dabei um die Gesundheit im Staatsleben. Befindet sich diese im Gleichgewicht, dann herrscht die Ruhe und das Vertrauen in deren Dauer. Wankt dies Vertrauen, geht das Gleichgewicht verloren, und es tritt Krankheit ein. Deshalb schien es beiden geboten, die allgemeine Ruhe möglichst nicht zu gefährden. 

Pragmatismus statt Tugendterror

Jeder Staat hat seine eigene Entwicklung genommen und folgt seinen Bedürfnissen in der immer beweglichen Zeit. Darauf müssen seine Nachbarn Rücksicht nehmen. Die großen, breiten Worte wie Freiheit, Zivilisation, Parlamentarismus können dazu verleiten, sich in die inneren Angelegenheiten eines Staates zu mischen, um diesen zu modernisieren, zu reformieren und auf die Höhe der Zeit zu bringen, so wie sie sich eine in der Geschichte besonders bevorzugte Großmacht vorstellt, die sich als Modell empfiehlt oder gar anderen aufdrängt. Metternich und Bismarck beunruhigte zu ihrer Zeit immer wieder die Absicht der Engländer als Repräsentanten des Westens, zu dem sie sich erklärten, in Staaten wie Spanien oder Portugal erzieherisch einzugreifen, um diese nachdrücklich auf liberale Pfade zu verweisen, obschon gerade Spanier sich als erste „liberal“ nannten und nach ihrem Vorbild sich liberale Parteien und Richtungen in Europa bildeten. 

Doch den Briten ging es vorzugsweise darum, Portugiesen und Spanier daran zu hindern, wieder eine führende Rolle in Südamerika übernehmen zu können, dauernd mit sich selbst beschäftigt und geschwächt durch innere Unruhen. Schon damals also wurden feierliche Werte, wie man heute sagt, gebraucht, um den Einsatz für eigene Interessen als Kampf im Dienst der öffentlichen Moral und höchster Grundsätze ausgeben zu können. 

Die Moralisierung der Politik und des Egoismus hielten Metternich und Bismarck für revolutionär in Erinnerung an die Jakobiner und die von ihnen bewirkten Kriege und Gewalttätigkeiten, um der Freiheit und den Menschenrechten zum allgemeinen Durchbruch zu verhelfen. Die vieldeutige politische Moral fürchteten sie als Kraft, die unberechenbar in ihren Wirkungen jede stabile Ordnung zersetzt, weil sie Wünsche und Begehrlichkeiten weckt, die es Völkern und Staaten nicht erleichtert, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Eine moralisch aufgerüstete Wertegemeinschaft begriffen sie daher als dauernden Unruheherd. 

Realpolitik, wie Rochau sie nannte, sollte vor dieser Gefahr schützen. Doch die großen Worte und Leidenschaften erwiesen sich im Laufe der Geschichte immer wieder als verlockender – und somit stärker. 

Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehören „Kaiser Wilhelm II. Die Erfindung des Reiches aus dem Geist der Moderne“ (Landt Verlag 2012) sowie „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (Klett-Cotta 2014).

www.eberhard-straub.de