19.04.2024

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Folge 52-22 vom 30. Dezember 2022 / Kolumne / Umkehr der Beweislast

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 52-22 vom 30. Dezember 2022

Kolumne
Umkehr der Beweislast
Florian Stumfall

Über dem ebenso peinlichen wie ungezogenen Auftritt der deutschen Innenministerin Nancy Faeser mit Armbinde in Katar droht ein ganz anderes Bubenstück der SPD-Politikerin in den Hintergrund zu treten, das dringend ins Licht der Öffentlichkeit gezogen gehört. Denn es handelt sich um einen Anschlag auf das Recht, verübt von der Ressortministerin, deren dringlichste Aufgabe es ist, eben dieses Recht vor allen Anfechtungen zu schützen. Faeser regte an, von Staatsbediensteten, die im Verdacht stehen, rechtes Gedankengut zu hegen, zu verlangen, dass sie diesen Verdacht ausräumen, indem sie beweisen, dass der Vorwurf falsch ist.

Die Initiative galt zunächst den Staatsbediensteten. Auf solche Weise müsse der Staat nicht in jedem Einzelfall kompliziert nachweisen, so die Begründung, dass der Verdächtige tatsächlich verbotene Ansichten vertrete oder gar derartige Pläne verfolge. Wie freilich jemand beweisen soll, dass er eine gewisse Meinung nicht hat und Gedanken der inkriminierten Art nicht wälzt, das konnte die Ministerin nicht sagen.

Und eben weil das nicht möglich ist, gehört es zu den Grundbestandteilen der abendländischen Rechtsgeschichte, dass im Bereich des Strafrechts die Schuld bewiesen werden muss und nicht die Unschuld. Und die Meinungskontrolle hat fraglos strafrechtlichen Charakter. Die Umkehrung der Beweislast, also die Pflicht des einzelnen, seine Unschuld glaubhaft zu machen, ist ein schwerwiegender Bruch mit der Rechtstradition, in der auch Deutschland steht. Im Zivilrecht mag es Ausnahmen in Sachen Beweislast geben, im Strafrecht nie.

Verdacht gegen eigene Beamte

Was Faesers Aktion in gesteigertem Maße unerträglich macht, ist der Umstand, dass sie sich gegen die Staatsbediensteten richtet, als deren oberste Dienstherrin die Ministerin eine besondere Verantwortung trägt. Sie verkennt, dass die Loyalität eine Beziehung auf Gegenseitigkeit ist und die Staatsdiener Anspruch auf den Schutz durch die Ordnung haben, der sie verpflichtet sind. 

Die Sache erinnert an den Radikalenerlass des Jahres 1972, jedoch mit zwei Unterschieden. Damals ging es nicht um die Überwachung von Beamten, sondern die Prüfung der Verfassungstreue bei Neueinstellungen. Und zum zweiten war damals eine Umkehrung der Beweislast nicht vorgesehen. Trotzdem gab es seinerzeit einen Sturmlauf der gesammelten Linken gegen den Erlass, den man mit dem böswillig falschen Begriff des Berufsverbots belegte. Nach einigen Jahren wurde der Radikalenerlass kassiert, ebenso wie auch Ministerin Faeser jetzt ihren Plan zurückzog. 

Vorläufig zurückzog, möchte man sagen, denn, angenommen man wollte mit Rücksicht auf diesen Vorgang ebenfalls die Beweislast umkehren, so läge es an Faeser zu beweisen, dass sie endgültig das Vorhaben begraben, und nicht zunächst einen Versuchsballon gestartet habe, um den Plan später wieder aufzunehmen, wenn sich die erste Empörung gelegt hätte und die Bedingungen günstiger wären. Eines aber bleibt auf jeden Fall bestehen: Die verstörende Erkenntnis, dass ein Regierungsmitglied und hier gar die für die Verfassung verantwortliche Ministerin jemals einen derartigen Plan überhaupt hat fassen können.

Denn auch das vorläufige Einlenken Faesers nimmt ihrem Versuch keineswegs den Charakter eines den Rechtsstaat bedrohenden Vorgangs. Dass aber dieser keineswegs einen Einzelfall darstellt, macht die Sache noch schlimmer. Denn die Missachtung des Rechts musste man bereits bei der damaligen Kanzlerin Angela Merkel beklagen, und das sogar mit einer gewissen Stetigkeit, die darauf schließen lässt, dass der Regierungschefin über vier Legislaturperioden die Beziehung zum Recht überhaupt fehlte. 

Das zeigte sich, um nur drei Beispiele herauszugreifen, in der Art und Weise, in der sie die Kernkraft abschaffte, im Rahmen einer Bundestagsrede, ohne irgendwelche Beschlüsse, geschweige denn die Rücksicht auf bestehende Verträge und Gesetze; es zeigte sich in der Art, wie sie während eines Interviews im Nebensatz den Grundgesetzartikel 6 hinfällig machte, der bis dahin Ehe und Familie einen besonderen Schutz gewährt hatte; und es war zu erleben, als sie verfügte – und dies ungeniert vor der Weltöffentlichkeit – dass eine demokratisch korrekte Wahl in Thüringen für nichtig erklärt werden und mit politisch korrektem Ausgang wiederholt werden musste.

Die Aufgabe des Rechts  

In diesem Zusammenhang kann man feststellen, dass es zwischen der Ära Merkel und der gegenwärtigen Ampel-Regierung zu keinerlei Neuorientierung gekommen ist. Rot-Gelb-Grün hat keine neue politische Richtung eingeschlagen, sondern führt mehr oder minder unverändert den vorherigen Kurs fort, nur eben etwas entschiedener und radikaler. Erst aus dieser Perspektive gewinnt die Ära Merkel neue Konturen. Doch weil der Niedergang auf so gut wie allen Gebieten in Deutschland derart mit Händen zu greifen ist, tritt der Verlust der Achtung des Rechts im politischen Alltag kaum ins Bewusstsein.

Hier handelt es sich um eine abstrakte Größe, die allzu vielen Menschen für ihr Leben selten – bei einem Strafzettel auf dem Auto – oder aber gar nicht von Belang zu sein scheint. Doch das ist ein großer Irrtum. Der bedeutende Rechtsphilosoph Rene Marcic sagt: „Das Recht ordnet das Leben der Menschen menschenwürdig. Seine Funktion ist, Normen zu geben, die es vollbringen, dass die Handlungen der Menschen, wenn sie normgemäß handeln, miteinander nicht kollidieren.“

Wo das Recht missachtet wird, entsteht also die Gefahr zunächst der Unordnung und in der Folge des Triumphs des Stärkeren über den Schwächeren. Das Recht ist nicht nur eine juridische, sondern ebenso eine staatsbildende und kulturelle Größenordnung. Daher geschieht der schlimmste Verstoß gegen das Recht, wenn es der Staat selbst ist, der, vertreten durch die Mächtigen, diesen Verstoß veranlasst. Und dann wird wahr, wovor der Kirchenlehrer Augustinus von Hippo bereits um die Wende des 4. zum 5. Jahrhunderts gewarnt hat: „Was anderes sind also Staaten“, so fragte er, „wenn ihnen das Recht fehlt, als große Räuberbanden?“

Der Autor ist ein christsoziales Urgestein und war lange Zeit Redakteur beim „Bayernkurier“.