24.04.2024

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Folge 52-22 vom 30. Dezember 2022 / Totalitarismus / Ein wenig beachteter Markstein der Geschichte des Kommunismus / Vor 100 Jahren wurde die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gegründet. Nach Jahren brutaler Kämpfe mit ihren inneren und äußeren Gegnern hatten die Bolschewisten damit ihre Macht endgültig gefestigt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 52-22 vom 30. Dezember 2022

Totalitarismus
Ein wenig beachteter Markstein der Geschichte des Kommunismus
Vor 100 Jahren wurde die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gegründet. Nach Jahren brutaler Kämpfe mit ihren inneren und äußeren Gegnern hatten die Bolschewisten damit ihre Macht endgültig gefestigt
René Nehring

Das „kurze 20. Jahrhundert“ vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 bis zum Zusammenbruch des Kommunismus 1989/91 wurde weltpolitisch von wenigen Großmächten geprägt: auf der einen Seite durch den Niedergang des Deutschen Reichs, Österreich-Ungarns, des Osmanischen Reiches, des russischen Zarentums sowie des britischen Empire, auf der anderen Seite durch den Aufstieg der neuen Mächte USA, China und Sowjetunion. 

Unter diesen Großmächten nimmt die Sowjetunion eine besondere Stellung ein. Ihr Aufstieg erfolgte nicht nur auf der Grundlage eines klassischen außenpolitischen Machtstrebens, bei dem mithilfe der ökonomischen und militärischen Stärke der eigene Einflussbereich vergrößert wird, sondern ganz wesentlich auch auf der Basis eines geschlossenen ideologischen Systems – des Kommunismus. Dieser ließ, zumindest anfänglich, rund um die Welt die Arbeiter und Bauern von einer besseren Zukunft träumen und verhalf der Sowjetunion so zu Sympathien, die das alte Russland nie hatte. 

Folgen eines historischen Scheiterns

Doch schon bald zeigten sich die Schattenseiten der neuen Zeit. Der ideologische Anspruch des Kommunismus, einen „neuen Menschen“ zu schaffen, führte zur Ausrottung eines Großteils zunächst der alten Eliten und bald darauf weiter Teile des eigenen Volkes. Ein soziologisches Großexperiment, dessen Scheitern von Beginn an erkennbar war, und das dennoch fast ein Dreivierteljahrhundert dauerte. Zwar gelang den Kommunisten der Sprung von einem agrarisch geprägten Feudalstaat zur hochgerüsteten Schwerindustrienation, die noch vor dem technisch am höchsten entwickelten Land des 20. Jahrhunderts – den USA – in den Weltraum vorstieß, doch verdankt das System diese Entwicklung nicht der Freisetzung schöpferischer Energien, sondern vielmehr der gnadenlosen Ausbeutung der schier unerschöpflichen Bodenschätze des Landes sowie der Arbeitskraft seiner Menschen. 

Schöpferisch war hingegen die Verarbeitung des kommunistischen Experiments in unzähligen Erzählungen, Filmen, Liedern, Denkmälern und Bildern – mal als das Regime verklärende Propaganda, mal als nüchterne Schilderung, wie die Menschen im Sowjetalltag zugrunde gingen. Zu nennen sind hier Romane wie Michail Scholochows „Der stille Don“ und Alexander Fadejews „Die junge Garde“ sowie Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“, Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ und Wassili Grossmans „Leben und Schicksal“ oder Filme wie Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ und Alexander Dowschenkos „Erde“. Nicht zu vergessen auch die Propagandagemälde Wladimir Serows, dessen Namen zwar kaum jemand kennt, dessen Bilder – etwa „Lenin proklamiert die Sowjetmacht“ – fast jeder schon einmal gesehen hat. 

Obwohl diese Sowjetunion längst Geschichte ist, beschäftigen ihre Hinterlassenschaften bis heute die Tagespolitik. Seit rund zehn Monaten hält der Krieg zwischen Russland und der Ukraine, also den beiden größten Teilstaaten des untergegangenen Reiches, die Welt in Atem. Auch sonst führen Konflikte um das Ausfüllen des durch den Zerfall der Sowjetunion entstandenen Vakuums sowie Moskauer Versuche, verlorene Größe zurückzugewinnen, regelmäßig zu neuen Kämpfen an der Peripherie des einstigen Herrschaftsbereichs. 

Ein wenig beachtetes Datum

Über all das ist viel geschrieben worden. Weltweit haben Autoren wie Helmut Altrichter, Anne Applebaum, Jörg Baberowski, Stéphane Courtois, Orlando Figes, Irina Scherbakowa, Karl Schlögel und Timothy Snyder sowohl die Geschichte der Sowjetunion im Ganzen als auch deren einzelne Kapitel wie die Oktoberrevolution, den Bürgerkrieg, die Zwangskollektivierung von Industrie und Landwirtschaft, den Terror der Stalinzeit, den Großen Vaterländischen Krieg und auch den Niedergang im Wettrüsten des Kalten Krieges in ihren Arbeiten erzählt. 

Um so erstaunlicher, dass ein bedeutendes historisches Ereignis – die eigentliche Staatsgründung der Sowjetunion, die sich dieser Tage zum hundertsten Mal jährt – nur selten beleuchtet wird. Zwar gilt der Beschuss des Petersburger Winterpalais‘ (den von der Propaganda später verklärten „Sturm“ auf den Zarensitz hat es nicht gegeben) zurecht als Auftakt der Sowjetzeit, doch ist die am 30. Dezember 1922 erfolgte Konstituierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als Staatsgründungsakt keineswegs zu vernachlässigen. 

Denn mit der Proklamation der 

Sowjetherrschaft durch Lenin im November 1917 war die neue Macht alles andere als gefestigt. Außenpolitisch stand das Land noch im Krieg mit Deutschland und den Mittelmächten des Ersten Weltkriegs, und im Inneren brach unmittelbar nach der Revolution ein mehrjähriger blutiger Bürgerkrieg zwischen der Roten Armee der neuen Machthaber und deren innenpolitischen Gegnern – Sozialdemokraten und gemäßigte Linke, Anhänger des Zaren und freie Nationalisten, entwurzelte Bauern und umherziehendes Lumpenproletariat – aus. Der Bürgerkrieg zwischen „Roten“ und „Weißen“ wurde mit einer beispiellosen Grausamkeit geführt, gerade auch gegen die Zivilbevölkerung. Folter und schwere Misshandlungen, Brandschatzungen und Massenerschießungen standen auf der Tagesordnung. Historiker schätzen, dass zwischen acht und zehn Millionen Russen ihr Leben verloren.

Eine Macht auf unsicherem Grund

Als Lenin im Vertrag von Brest-Litowsk Frieden mit den Mittelmächten schloss, schickten die Entente-Staaten Frankreich und Großbritannien – eben noch Verbündete im Weltkrieg – Interventionstruppen nach Russland, nicht zuletzt auch, um der von den neuen Machthabern verkündeten Weltrevolution frühzeitig Einhalt zu gebieten. Hinzu kamen die Unabhängigkeitsbestrebungen in zahlreichen Regionen des Reiches. Das Großherzogtum Finnland strebte ebenso nach staatlicher Eigenständigkeit wie die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Auch das Gouvernement Bessarabien wollte Russland verlassen und gründete die Republik Moldau, schloss sich jedoch schon bald Rumänien an. Auch mit der Türkei galt es den Grenzverlauf zu klären, was im Vertrag von Kars gelang. Und im fernen Sibirien gab es autonome Gebiete wie die Fernöstliche Republik. 

Die Ukraine und Weißrussland wiederum hatten sich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs zunächst als unabhängige Volksrepubliken gegründet, wurden jedoch schon 1918 beziehungsweise 1919 nach dem Vorbild Russlands zu „Sozialistischen Sowjetrepubliken“ ausgerufen, und rückten damit gleichsam wieder stärker an Russland heran. Ähnlich verlief die Entwicklung in Transkaukasien. 

Polen hingegen akzeptierte die nach dem Ersten Weltkrieg als Curzon-Linie gezogene neue polnisch-russische Grenze nicht und entfachte unter der Führung des Marschalls Józef Piłsudski einen neuen Krieg gegen Russland. Dieser wurde 1921 mit dem Vertrag von Riga beendet, der die Grenze rund 200 bis 250 Kilometer östlich der Curzon-Linie zog. 

Der Erfolg der Kommunisten war also mit der Eroberung der Macht in Sankt Petersburg keineswegs gesichert. Ganz im Gegenteil ließ es die Liste innerer und äußerer Probleme gerade in den ersten Jahren für wahrscheinlicher erscheinen, dass der erste Arbeiter-und-Bauern-Staat der Geschichte weiter zerfallen würde. Dass sich die Bolschewiken letztlich durchsetzten, lag außenpolitisch an einem gewissen Pragmatismus Lenins, der früh erkannte, um welche Territorien sich zu kämpfen lohnte – und welche er lieber in die Freiheit entließ. 

Kriegskommunismus und 

Neue Ökonomische Politik

Innenpolitisch agierte das Regime deutlich weniger pragmatisch. Neben den massenhaften Liquidierungen aller tatsächlichen oder eingebildeten Feinde etablierte die Führung den sogenannten Kriegskommunismus, ein planwirtschaftliches Modell, das der Partei während des Bürgerkriegs einen zentralistischen Zugriff auf die ökonomischen Ressourcen ermöglichen sollte und dafür die systematische Enteignung aller Unternehmen und Produktionsmittel betrieb. Die theoretischen Überlegungen gingen bis hin zur Abschaffung des Geldes und seines Ersatzes durch eine Verteilungswirtschaft. Gesteuert wurde der „Kriegskommunismus“ durch den „Obersten Volkswirtschaftsrat“, der das Prinzip der Räteherrschaft auch auf die Wirtschaft übertrug. An die Stelle der alten Firmenleitungen traten „Fabrikkomitees“, die als scheindemokratische Gremien ausschließlich den Willen der kommunistischen Partei durchdrückten. Der wichtigste Auftrag des „Kriegskommunismus“ war jedoch nicht die Gewährleistung der Versorgung der Bevölkerung, sondern der Roten Armee, damit diese den Kampf an den vielfältigen Fronten bestehen konnte. 

Doch schon bald mussten die roten Machthaber erkennen, dass ihr Wirtschaftsmodell gescheitert war. Die Produktion von Agrar- und Konsumprodukten ging zurück und ließ sich durch keine Zwangsmaßnahme aufrechterhalten. Dafür stiegen die Preise, und der Hunger nahm bedrohliche Ausmaße an. Gegen etliche Widerstände in der kommunistischen Partei drückten Lenin und Trotzki deshalb ab 1921 die „Neue Ökonomische Politik“ durch, die wieder mehr Eigenverantwortung auf nahezu allen Feldern der Wirtschaft und des Handelns zuließ und schon bald nicht nur zu einer Verbesserung der Versorgungslage, sondern auch zu mehr Freiheiten für die Bürger führte. 

Parallel zur Korrektur ihrer fatalen anfänglichen Wirtschaftspolitik setzten sich die Bolschewiken allmählich auch im Bürgerkrieg durch. Zwar bedeutete die Niederlage im Polnisch-Sowjetischen Krieg im März 1921 die Akzeptanz eines weiteren schmerzhaften Gebietsverlustes, doch wurden durch die Beendigung des Krieges mit Polen die dort gebundenen Kräfte frei für die Kampfschauplätze des Bürgerkriegs. Bereits im November 1920 waren die „Weißen“ auf der Krim geschlagen worden, nun konnten auch das Schwarzmeergebiet, der Kaukasus und der Ferne Osten erobert werden. Mit dem Fall Wladiwostoks war der Bürgerkrieg faktisch vorbei. 

Etablierung der Sowjetmacht 

Als sich dann am 30. Dezember 1922 die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, die Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik und die Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (bestehend aus Armenien, Aserbaidschan und Georgien) zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zusammenschlossen, war dies also weit mehr als ein bloßer Verwaltungsakt, bei dem unter anderem der Regierungssitz von St. Petersburg beziehungsweise Petrograd nach Moskau zurückverlegt wurde. Vielmehr markiert dieses Datum die endgültige Etablierung der Sowjetmacht nach innen wie die Festlegung ihres Herrschaftsgebiets nach außen. 

Mit dieser machtpolitischen Konsolidierung und mit den Erfolgen der Neuen Ökonomischen Politik hätte die Geschichte der Sowjetunion vielleicht einen friedlicheren und freiheitlicheren Verlauf nehmen können als es dann gekommen ist. Doch für die Russen und die Welt gleichermaßen fatal verstarb wenig später, im Januar 1924, der unbestrittene Anführer der Revolution, Wladimir Iljitsch Lenin. Damit war der Weg frei für Josef Stalin – der die kommunistische Partei und das Land schon bald mit neuem Terror überzog.