07.05.2024

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Folge 03-23 vom 20. Januar 2023 / Ein schallendes Nichts / Mit dem Élysée-Vertrag wurde vor 60 Jahren ein letzter vergeblicher Versuch unternommen, Europa einen Sinn und Substanz zu verleihen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-23 vom 20. Januar 2023

Ein schallendes Nichts
Mit dem Élysée-Vertrag wurde vor 60 Jahren ein letzter vergeblicher Versuch unternommen, Europa einen Sinn und Substanz zu verleihen
Eberhard Straub

Fürst Clemens Metternich, österreichischer Diplomat und Staatskanzler, empfahl bei Verhandlungen, nur wenige Worte zu verlieren, sich auf das zu beschränken, was notwendig ist, aber all das zu tun, was klug und möglich ist. Beim Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit, im Pariser Élysée-Palast vor 80 Jahren, am 22. Januar 1963, unterzeichnet, folgte man nicht diesem weisen Rat. 

Im Jahr zuvor wurden im Juli während des Staatsbesuchs des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer in Frankreich und anschließend im September 1962 bei der Reise des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle durch die Bundesrepublik viele feierliche Reden gehalten, die mehr Herz und Gemüt als den praktischen Sachverstand beschäftigen sollten. Franzosen wie Deutsche ließen es sich gefallen und feierten sich, indem sie den beiden Staatsmännern stürmisch huldigten. Nüchternheit hätte die festlichen Stimmungen gestört. Immerhin verzichteten Adenauer und de Gaulle, die sich herzlich nach der Vertragsunterzeichnung umarmten, darauf, ihr Abkommen eine entente cordiale zu nennen, ein Dokument herzlich-innigen Einvernehmens.

Nüchternheit statt Pathos

Franzosen wie Deutsche verbanden mit den verschiedenen ententes cordiales zwischen Frankreich und England wenig angenehme Erinnerungen. Für Franzosen waren sie mit vielen Enttäuschungen über die unzuverlässigen Briten verknüpft, Deutsche vergaßen nicht, dass diese gefühlsbeladenen Vereinigungen einer „westlichen Wertegemeinschaft“ sich meist gegen sie gerichtet hatten, vor allem im Großen Krieg ab 1914, dessen Folgen im Gedächtnis vieler noch sehr lebendig waren. Beschwörungen des Westens und gar einer Wertegemeinschaft konnten einer besonderen französisch-deutschen Verständigung damals nur im Wege stehen, die eine Versöhnung zwischen den Nachbarn bewirken sollte, die trotz immer regen Verkehrs miteinander nie zu einem unbeschwerten Umgang gefunden hatten. Wie beim Fuchs und dem Storch in der Fabel von Jean de La Fontaine konnte sie ihre gemeinsame Mahlzeit nie zu einer Gemeinsamkeit führen, höchstens zum Staunen über die Andersartigkeit der Genüsse und ihrer notwendig unvereinbaren Lebensweisen, worauf Madame de Staël, Johann Wolfgang von Goethe und noch Hugo von Hofmannsthal resigniert hingewiesen haben.

Aber auch solche Überlegungen großer Kenner der deutschen und französischen Kultur wurden nicht weiter beachtet, erfüllt von dem Verlangen, tausend Jahre recht bewegter deutsch-französischer Beziehungen nun in einer unkündbaren Freundschaft zu beruhigen, die alle übrigen Europäer dazu auffordern sollte, diesem Beispiel nachzueifern und in der deutsch-französischen Eintracht ein Modell europäischer Einigkeit überhaupt anzuerkennen und sich nach ihm zu richten. 

Es ist kein Wunder, dass bei derartig idealen Erwartungen sich rasch Spannungen bemerkbar machen mussten, weil sich im Alltag einmal mehr bestätigte, dass Deutsche und Franzosen, trotz edelster Beteuerungen, wie Fuchs und Storch am gemeinsamen Tisch sitzend dennoch nicht zueinanderfinden und kein überzeugendes Vorbild einer künftigen europäischen Union versöhnter Besonderheiten sein konnten. General de Gaulle verglich alsbald Verträge mit Rosen und jungen Mädchen: Sie haben ihre Zeit und verblühen. Ihn verdross, dass die deutschen Parteien im Bundestag vor der Ratifizierung des Abkommens eigenmächtig dem Vertrag eine Präambel voranstellten, die den französischen Absichten eklatant widersprach. Das war kein verheißungsvoller Beginn enger Zusammenarbeit. 

De Gaulles Ideal der dritten Kraft 

Charles de Gaulle und mit ihm die meisten Franzosen hatten nämlich eine ganz andere Vorstellung von Europa und seiner möglichen Rolle in der in zwei Blöcke gespaltenen Welt als die Deutschen in der Bundesrepublik. Der General und Staatspräsident verband mit einer deutsch-französischen Verständigung die Hoffnung, Europa zu einer gewissen Selbstständigkeit zwischen den beiden Weltmächten zu verhelfen, was bedeutete, auch gegenüber den USA und innerhalb der NATO beweglich zu sein und die eigenen Interessen nicht unter dem Druck einer Bündnistreue zu vernachlässigen. Er dachte an eine künftige Ordnung in Europa, die ohne Russland gar nicht zu erreichen war, an ein Europa von Gibraltar bis zum Ural als Teil der alten, kontinentalen Welt in Übereinstimmung mit seiner langen Geschichte. 

Eine atlantische Gemeinschaft stand dazu im Widerspruch. Deshalb lehnte der Historiker de Gaulle die Aufnahme Großbritanniens in die Europäische Gemeinschaft vehement ab, das verwandt mit Europa sei, aber nie zu Europa gehört habe. Die Geschichte Europas begriff er als Geschichte von Völkern, Sprachen und Nationalstaaten, die nie nach Einheit und Vereinheitlichung gestrebt hatten, sondern nach Einigkeit im Konzert der Mächte, in dem jeder seine eigenartige, doch für die Harmonie unersetzliche Stimme führen und bewahren musste. 

Mit solchen Vorstellungen konnten und wollten die Westdeutschen nichts anfangen. Da ihre Nation nicht mehr bestand und sie ihrer Geschichte überdrüssig waren, verwarfen viele unter ihnen die Nation und strebten in eine neue Welt und eine neue Zeit, die nichts mehr mit der Alten Welt und ihren glücklosen, ja katastrophalen Entwicklungen und Zusammenbrüchen zu tun hatte. Der atlantischen Gemeinschaft gehöre die Zukunft, und deshalb könne ein vereinigtes Europa nur als Teil des Westens, so wie ihn die USA und England als Wertegemeinschaft verstehen und verfestigen, zu einer neuen Bestimmung finden. Dieser künftige Bund der Völker müsse zur Überwindung der Nationen führen, die in Europa aufzugehen hätten, der neuen Gemeinschaft als Teil des Westens, der möglichst die ganze Welt in der einen Menschheit durchdringen werde. Selbstverständlich durfte unter solchen Voraussetzungen England nicht von Europa getrennt bleiben, das ohne dessen Mitsprache seine Zukunft aufs Spiel setze. Die herkömmliche Anglophilie gerade unter Norddeutschen wurde mit politischem Denken verwechselt, jetzt auch auf die USA als geistiger und praktischer Führer erweitert. Nicht Europa, sondern der Westen galt als das übergeordnete Ziel.

So wurde es in der deutschen Präambel festgehalten, die den Vertrag um seine Substanz brachte. Er war dadurch sogleich ein schallendes Nichts geworden, wie Metternich die Heilige Allianz nannte, die nach 1815 als moralische Werte- und Weltgemeinschaft von Russland angeregt worden war. In der Bundesrepublik stritten Gaullisten und Atlantiker in allen vier Parteien miteinander, auch nach Konfessionen unterschieden. Die Katholiken vor allem in der CSU gaben sich als franzosenfreundliche Gaullisten aus, was die norddeutschen Protestanten erst recht zu eingeschworenen Atlantikern machte, in den Gaullisten katholische, bayerische Dunkelmänner und Verschwörer witternd. 

Dem Nachfolger Adenauers, dem Protestanten und Anhänger einer weltweiten Handelsfreiheit Ludwig Erhard, einem an globalen Zusammenhängen interessierten Franken, erschien eine deutsch-französische Zusammenarbeit recht provinziell, ein Relikt aus der Welt von gestern mit ihren überholten, dem Kleinen und Kleinlichen verhafteten Ideen. Beflissen wurde die Freundschaft der beiden Völker im Namen der Völkerverständigung beschworen, und regelmäßig trafen sich Minister, mal in Bonn, mal in Paris, um wenigstens den Schein zu wahren und mit freundlichen Erklärungen den Eindruck offenkundiger Gegensätze etwas abzuschwächen.

Deutschlands Drang nach Westen

Es ließ sich aber gar nicht verbergen, dass den Deutschen Frankreich, seine Kunst, Literatur und Geschichte immer fremder wurde. Frühere Generationen, die jetzt alt wurden oder starben, hatten sich noch mit Leidenschaft für Frankreich eingesetzt, das ihnen zum Bildungserlebnis geworden war. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einem wahren deutsch-französischen Enthusiasmus, weniger unter Politikern als unter Künstlern, Gelehrten, Studenten, Arbeitern und deren Organisationen, übrigens auch in Frankreich. Es gab – unabhängig von rechten oder linken Überzeugungen – mannigfache Überlegungen, wie am besten Deutsche und Franzosen, die doch aufeinander angewiesen wären, in ihren Unterschieden gerade große Versprechen für eine gemeinsame Zukunft erkennen könnten. Unvergessen war Victor Hugos Aufruf von 1845: „Frankreich und Deutschland sind im Wesentlichen ganz Europa. Deutschland ist das Herz, Frankreich ist der Kopf. Deutschland und Frankreich sind im Wesentlichen die Zivilisation.“ Diese hochgemuten Parolen verloren ihre Anziehungskraft nicht durch die politischen Schwierigkeiten oder gar durch den Krieg und die deutsche Besatzung zwischen 1941 und 1944.

Die Idee hat sich nie mehr erholt

Die französischen Kollaborateure und deren deutsche Freunde bastelten an allerlei Plänen eines von Deutschen und Franzosen geprägten neuen Europa. Nach dem Krieg war das allen peinlich, und mit unerquicklichen Enthüllungen oder Vorwürfen wurde ein hohes Gut, die deutsch-französische Freundschaft, ins Zwielicht gerückt. Davon hat sich diese noble Idee nie mehr erholt, die um 1963 nur noch als eine verlegene Redensart gebraucht wurde, an deren Ernst mittlerweile nur die Alten glaubten, wie Adenauer und de Gaulle. Jüngere, die als Besatzungssoldaten oder Kollaborateure einander schätzen gelernt hatten, mussten schweigen oder hielten sich zurück, weil ihre gemeinsame Vergangenheit als Skandal empfunden werden sollte. 

Die Politiker auf beiden Seiten, kaum vertraut mit den Sprachen und den Mentalitäten, flüchteten in Routine und technisch-praktische „Projekte“, die keine besondere Anteilnahme oder Aufmerksamkeit weckten. Eine historisch fundierte Europaidee hatte sich in der Bundesrepublik schneller verflüchtigt als in Frankreich. Daran liegt es auch, dass die deutsch-französische Freundschaft auf die übrigen Europäer nicht sonderlich werbend wirkte. Es gab sie ja gar nicht, und was als solche in Brüssel als europäischer Motor beschworen wurde, lehrte die anderen eher das Fürchten vor einer Union, die nur eines will, die Integration und Zentralisierung immer weiter voranzutreiben, nach Einheit, nicht nach Einigkeit strebend. 

Europa als geistige Macht hat sich aufgelöst. Es ist verschwunden im „Westen“ und seiner „Wertegemeinschaft“. Das wird gar nicht bedauert, weil beides an Würde und Wert Europa überragt. Im Grunde war der Élysée-Vertrag ein letzter Versuch, Europa einen Sinn und Substanz zu verleihen. Ein vergeblicher Versuch.