03.05.2024

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Folge 05-23 vom 03. Februar 2023 / Erinnerungskultur / Zeitgeschichte aus linker Sicht / Waldemar Czachur und Peter Oliver Loew beschäftigen sich mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 05-23 vom 03. Februar 2023

Erinnerungskultur
Zeitgeschichte aus linker Sicht
Waldemar Czachur und Peter Oliver Loew beschäftigen sich mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs
Karlheinz Lau

Der polnische Germanist Waldemar Czachur  und Peter Oliver Loew Direktor des Deutschen Polen-Instituts, beabsichtigen mit ihrem Buch ‚„Nie weider Krieg. Der 1. September in der Erinnerungskultur Polens und Deutschlands zwischen 1945 und 1989“ den 1. September 1939 fest im historischen Bewusstsein der Bürger in Polen, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland zu verankern. Das geschieht Jahr für Jahr bis 1989 für jeden einzelnen Staat, in dem die nach Meinung der Verfasser wichtigsten Ereignisse, die an den Tag des Kriegsausbruches erinnern, genannt, beschrieben und   bewertet werden. 

Das kommt schon in der Gliederung des Buches zum Ausdruck. Im ersten Hauptteil wird die Erinnerung an den 1. September in Polen und in Deutschland von 1945 bis 1988 behandelt. Das geschieht in drei Kapiteln jeweils für die Volksrepublik Polen, für die DDR sowie für die Bundesrepublik Deutschland. Für Polen „Das Septembergedenken im Dienst der Partei: Herrschaftslegitimation“; für die DDR „Friedensfeiern an der Friedensgrenze“ und für die Bundesrepublik Deutschland „Spärliches Gedenken und erste Akzente 1949 bis 1959“. 

Im zweiten Hauptteil wird das Gedenken 1989 in den drei Staaten behandelt. In den zahlreichen Unterkapiteln werden in erster Linie staatlich getragene Veranstaltungen geschildert, aber auch nichtstaatliche Träger wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen kommen zu Wort. Positiv muss hervorgehoben werden, dass die zahlreichen Bilder jeweils zu den Texten passen. 

Erinnerungsdatum 1. September

Die Autoren beschreiben den gesamten Zeitraum vom Kriegsende 1945 bis zum Ende der Herrschaft der Kommunisten in Polen und in Mitteldeutschland in 62 einzelnen Beiträgen, eine beachtliche Fülle an Material wird dem Leser geboten. Jedes Kapitel oder Teile können einzeln gelesen werden. Nimmt man den gesamten Text, kann der politische Standort der Autoren beschrieben werden. Es ist eine eher linke Position. Das wird besonders deutlich in den Abschnitten über die Bundesrepublik Deutschland. Hier ist das Unterkapitel „Der 1. September und die Friedensbewegung: Ein Antikriegstag ohne Polen, 1957 bis 1968“ stellvertretend zu nennen. Für die Polen ist es der Beginn der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, die erst 1944/45 ihr Ende fand. Verknüpft wurde das Datum mit dem Sieg der Polen 1410 bei Tannenberg/Grunwald über den Deutschen Orden. Dieser gilt bis heute als Verkörperung eines deutschen Drangs nach Osten – „so wie wir es den Deutschen 1410 gezeigt haben, so haben wir es ihnen 1944/45 gezeigt und so werden wir es ihnen auch in Zukunft zeigen.“ 

Die neuerlichen Forderungen der polnischen PiS-Regierung nach Reparationen von Deutschland liegen offensichtlich auf dieser Linie. Es muss hinzugefügt werden, dass innenpolitische Legitimierung der von Moskau eingesetzten Machthaber für den gesamten Zeitraum von zentraler Bedeutung war, was auch für die DDR galt. Die DDR wurde von Menschen im Ostblock nicht mit Deutschland gleichgesetzt, das war eindeutig die Bundesrepublik Deutschland.

In der seit 1949 bestehenden Bundesrepublik Deutschland hatte der 1. September 1939 in den ersten Jahren nach 1945 einen ganz anderen Stellenwert. Er wurde nicht zur Kenntnis genommen, weil andere Probleme die Deutschen bewegten. Die verlorenen Ostprovinzen, über zehn Millionen gewaltsam Vertriebene mit Hunderttausenden von Opfern, die schwierige Eingliederung dieser Menschen, obwohl die Hoffnung auf zeitnahe Rückkehr in die verlassene Heimat sehr verbreitet war, und nicht zuletzt der Wiederaufbau zum Teil total vernichteter Städte und Industrieanlagen. Diese Probleme bestanden auch in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands und späteren DDR, ohne dass sie – auf Druck Moskaus – genannt werden durften. Das betraf vor allem den Verlust der Heimat im Osten und die grausame Vertreibung aus ihr. 

Gradmesser für deutsch-polnisches Verhältnis

Die Einbindung des 1. September in die Erinnerungskultur der Polen war gleichzeitig ein Gradmesser für das polnisch-deutsche Verhältnis. Diese Sicht wurde in der Bundesrepublik Deutschland nicht geteilt. Das Datum wurde im Zusammenhang mit der Diskussion und Auseinandersetzung der Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gesehen. Erst mit den Studentenprotesten und der Friedensbewegung begann die Auseinandersetzung um Schuld und Verantwortung, die bis heute anhält. Bei aller inhaltlichen Unterschiedlichkeit der von den beiden Autoren ausgewählten Beispiele bleibt der Titel des Buches „Nie wieder Krieg“ bis heute aktuell. Das hindert offensichtlich die polnische Seite nicht, die alte Leier der bösen und revanchistischen Vertriebenen auch im neuen Jahrhundert aufzulegen. Das ist auch deshalb peinlich, weil die Verantwortlichen es besser wissen.

Sozialdemokraten, kommunistische Gruppen und Gewerkschaften werden zitiert, nicht aber bürgerliche Parteien wie CDU/CSU oder FDP und nahestehende Verbände wie der Bund der Vertriebenen oder der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Von kirchlichen Aktivitäten ist kaum die Rede. Generell hätte Loew viel breiter argumentieren können/müssen. Das mindert den Wert dieser Untersuchung. Skeptisch muss man sein, ob das Datum 1. September und seine Folgen in das Bewusstsein der Menschen in Deutschland Eingang gefunden haben. In Polen ist das Gefühl für die eigene Nation und ihre Geschichte viel ausgeprägter.

Waldemar Czachur/Peter Oliver Loew: „Nie wieder Krieg! Der 1. September in der Erinnerungskultur Polens und Deutschlands zwischen 1945 und 1989“, Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2022, gebunden, 379 Seiten, 39 Euro