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Folge 06-23 vom 10. Februar 2023 / DDR / Kindesentzug als Strafe für politischen Ungehorsam / Ungeachtet des Grundlagenvertrages konnten „Republikflüchtlinge“ grundsätzlich nur Kinder nachholen, welche der Staat als Belastung einschätzte wie Behinderte, chronisch Kranke, Hilfsschüler oder Schwererziehbare

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 06-23 vom 10. Februar 2023

DDR
Kindesentzug als Strafe für politischen Ungehorsam
Ungeachtet des Grundlagenvertrages konnten „Republikflüchtlinge“ grundsätzlich nur Kinder nachholen, welche der Staat als Belastung einschätzte wie Behinderte, chronisch Kranke, Hilfsschüler oder Schwererziehbare
Heidrun Budde

Mauer, Stacheldraht, Selbstschussanlagen und Minen – die jahrzehntelang existierende innerdeutsche Grenze war nahezu unüberwindbar. Wer das aufgezwungene und fremdbestimmte Leben im SED-Staat nicht mehr ertragen konnte, der dachte über unterschiedliche Fluchtmöglichkeiten nach. 

Die Unterzeichnung des deutsch-deutschen Grundlagenvertrages vom 21. Dezember 1972 mit der Ansage, „gut nachbarliche und normale Beziehungen“ zu schaffen, suggerierte den Bürgern, dass nun die Chance auf „Familienzusammenführungen“ bestehen würde. Das verführte Eltern zum Entschluss, allein die lebensgefährliche Flucht zu wagen, um danach die Ausreise der Kinder mit Hilfe der bundesdeutschen Behörden einzufordern.

Der Nachreisewunsch der Kinder war ein typischer Fall der „Familienzusammenführung“, denn mit der Flucht wurde die familienrechtliche Bindung nicht automatisch beendet. Die DDR-Rechtsordnung sah vor, dass das Sorgerecht nur bei „schweren schuldhaften Pflichtverletzungen“ (§ 51 Familiengesetzbuch) entzogen werden konnte. Dazu musste das Jugendamt eine begründete Klage beim Kreisgericht, Kammer für Familienrecht, einreichen. Das Gericht prüfte den Sachverhalt, hörte Zeugen an und sprach am Ende ein „Urteil im Namen des Volkes“. 

Bei der Sichtung der noch vorhandenen Gerichtsakten fällt auf, dass der politische Aspekt des Kindesentzugs bei „Republikfluchten“ nur am Rande erwähnt wird. Als Beispiel sei hier die Akte eines Ehepaares, das gemeinsam zur See fuhr und diese Dienstreise zur Flucht nutzte, angeführt. Der Vater forderte die Nachreise seiner kleinen Tochter ein. Im Gerichtsverfahren, ohne Anhörung der Eltern, wurde ihnen eine lieblose Betreuung des Kindes unterstellt. Angeblich hätte es diese Kindeswegnahme auch ohne „Republikflucht“ gegeben. 

Täter wurden verbeamtet 

Das wirft die Frage auf, wie glaubwürdig die noch vorliegenden Gerichtsakten sind. War das öffentliche Gerichtsverfahren nur das „bestellte Schauspiel“ für einen Kindesentzug von „Republikflüchtlingen“, um den Anschein zu wahren?

Die Antwort auf diese Frage geben die einstmals geheim gehaltenen Vorschriften des Innenministers. Noch vor der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages, am 12. September 1972, erließ Friedrich Dickel die Dienstvorschrift Nr. 015/72 „über vertrauliche Regelungen im grenzüberschreitenden Personenverkehr“ (Vertrauliche Verschlußsache I 020 488). Hier wurde unter Punkt 6.1.2. aufgeführt, in welchen Fällen Übersiedlungsanträge für Kinder von „republikflüchtigen Eltern“ gestellt werden konnten. Dort heißt es: „Voraussetzung dafür ist, daß diese Kinder körperliche oder geistige Gebrechen besitzen; an chronischen Erkrankungen leiden; Hilfsschüler sind oder erhebliche Erziehungsschwierigkeiten bereiten und von denen eine positive Entwicklung nicht zu erwarten ist.“

Am 8. März 1977 regelte der Innenminister dann in seiner Ordnung Nr. 0118/77 (Vertrauliche Verschlußsache I 020 815) unter Punkt 6b: „Folgende Entscheidungen sind entsprechend der jeweiligen Sachlage zu treffen bzw. dem Entscheidungsbefugten vorzuschlagen: … die Ablehnung des Übersiedlungsersuchens, insbesondere wenn die Zusammenführung mit Angehörigen erfolgen soll, die durch ungesetzliches Verlassen der DDR die Trennung herbeigeführt haben.“ 

Damit war das Ergebnis eines jeden Gerichtsverfahrens zum Entzug des Sorgerechts bereits aus dem „Untergrund“ vorgegeben. Die Jugendämter als Kläger vor dem Familiengericht mussten Klagebegründungen „erschaffen“, die diesen internen Forderungen entsprachen. Nur Kinder, von denen kein „Nutzen“ mehr für den DDR-Sozialismus zu erwarten war, sollten in den Westen nachreisen. Allen anderen Eltern war das Sorgerecht zu entziehen.

Familien wurden zerstört

Die Entscheidungsvorbereitung, ob ein Kind nachreisen durfte, war keine ausschließliche Aufgabe des Ministeriums für Staatssicherheit, sondern man bediente sich auch der „fleißigen Helfer“. Innenminister Dickel übertrug in seiner geheimen Ordnung 0118/77 den Leitern der Jugendämter (in der Kompetenz des Ministeriums für Volksbildung von Margot Honecker) ein Recht auf „schriftliche Zustimmung“ zu den Nachreiseanträgen.

Eine Entscheidung über diese „schriftliche Zustimmung“ setzte eine gründliche Sachverhaltsaufklärung voraus, und den Leitern der Jugendämter muss bekannt gewesen sein, was sie abzuprüfen hatten. Es wird Befragungen der Heimleiter oder Pflegeeltern zu diesen Kindern gegeben haben. Doch trotz intensiver Suche konnten diese Unterlagen nicht aufgefunden werden. Die Vernichtungen waren hierzu offensichtlich sehr gründlich. Da diese internen Vorschriften beim Zusammenbruch des Staates völlig unbekannt waren, setzten viele Leiter der Jugendämter, nun auf gut bezahlten Beamtenposten, ihre Tätigkeit fort. Bei Anfragen zu den Akten der Kinder verschanzt man sich hinter dem Datenschutz oder kann sich an nichts erinnern.

Den Willkürcharakter des Kindesentzugs zu beweisen, ist heute für die geflüchteten Eltern sehr schwierig. In den Akten des Familiengerichts, wenn sie denn überhaupt noch da sind, wird das politische Motiv der Entscheidung nur nebensächlich erwähnt und ein Schriftwechsel zwischen den Jugendämtern in der DDR und in der Bundesrepublik wurde verhindert. Innenminister Dickel regelte in seiner geheimen Ordnung 0118/77: „Schriftwechsel zur Wohnsitzänderung von Minderjährigen mit Jugendämtern, anderen staatlichen Organen und Einrichtungen, Rechtsanwälten sowie sonstigen Institutionen der BRD und Westberlins ist nicht zu führen.“

So sehr sich die Eltern in der Bundesrepublik auch um die Nachreise ihrer Kinder bemühten, heute zeigen die einstmals geheimen Vorschriften, dass sie keine Chance hatten. Wer seinen Kindern eine lebensgefährliche Flucht ersparen wollte und den Versprechungen auf eine „Familienzusammenführung“ glaubte, wurde auf perfide Art und Weise für den politischen Ungehorsam bestraft. 

Die Familien wurden so nachhaltig zerstört, und kein Funktionär von damals musste sich dafür verantworten. Selbst, wenn die Eltern ihre Kinder nach dem Zusammenbruch der DDR finden konnten, so waren sie sich inzwischen fremd. Die verpassten gemeinsamen Jahre und der nur schwer zu widerlegende Vorwurf, die Kinder mutwillig verlassen zu haben, verhindern noch heute oft eine Wiederannäherung. 

Dr. Heidrun Budde ist Autorin einer 180-seitigen Monografie zu dieser Thematik. „Kindesentzug. Zerstörte Familien in der DDR“ ist dieses Jahr im Hamburger Verlag Tredition erschienen.