02.05.2024

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Folge 7-23 vom 17. Februar 2023 / Erinnerungen / Was bleibt von einem ostpreußischen Leben übrig? / Im Gedenken an meine Großmutter Ursula Schindler geborene Machmüller (1921–2022)

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 7-23 vom 17. Februar 2023

Erinnerungen
Was bleibt von einem ostpreußischen Leben übrig?
Im Gedenken an meine Großmutter Ursula Schindler geborene Machmüller (1921–2022)
Gerald Schuster

Nein, Traurigkeit und Sentimentalität waren nichts für meine fröhliche ostpreußische Großmutter, die ihre Kindheit und Jugend in Tapiau, Herzogswalde und Königsberg verbrachte. Auf Vertriebenentreffen ist sie daher nur in der Anfangszeit gegangen: Sie hat es nicht ertragen, dass dort so viel geweint wurde. Als jahrzehntelange Leserin des Ostpreußenblattes beziehungsweise der PAZ war sie jedoch immer über die Entwicklungen in den Vertriebenenverbänden und besonders natürlich der Landsmannschaft Ostpreußen informiert.
Unzählige Bekannte und Freunde aus ostpreußischer Zeit hat sie durch ihre Lieblingsrubrik „Die Ostpreußische Familie“ noch Jahrzehnte nach dem Krieg wiedergefunden. Am Ende hat sie fast alle überlebt.

Mit der endgültigen Festsetzung der Oder-Neiße-Grenze im Zuge der deutschen Vereinigung Deutschlands hatte meine Großmutter recht bald ihren Frieden gemacht. Sie besaß die bewundernswerte Gabe, das Hier und Jetzt anzunehmen und nicht an der Vergangenheit zu zerbrechen. Dazu beigetragen hat sicherlich, dass 1945 einem großen Teil ihres Freundeskreises die Flucht nach Westdeutschland geglückt war. Sie fanden sich im Raum Göttingen und Braunschweig, wo sie die letzten 40 Jahre lebte, wieder, gründeten Familien und schlugen dort Wurzeln.
Freunde durch „Die Ostpreußische Familie“ wiedergefunden
Das alles fing meine Großmutter auf und milderte den Schmerz über den Verlust ihrer ostpreußischen Heimat. Zudem half es ihr, die Fassung zu bewahren, als sie nach der Öffnung des nunmehr sowjet-russischen Königsberger Gebietes 1991 erstmals nach dem Krieg wieder ihre Heimat besuchen konnte und die Orte ihrer Kindheit in einem ganz anderen Zustand vorfand, als sie sie 1945 verlassen musste.
Kurz nach dem Ableben meiner Großmutter wird der gegenständliche Teil dieses so langen Lebens dann in wenigen Tagen nüchtern und profan abgewickelt: das Zimmer im Braunschweiger Seniorenheim aufgelöst, die Habseligkeiten verteilt, verschenkt, weggegeben, die letzten Rechnungen beglichen.

Die Erinnerungen an einen wunderbaren Menschen und die gemeinsam verbrachte Zeit hingegen bleiben bis zum Ende des eigenen Lebens. Diese Feststellung ist nun sicherlich nicht überraschend und auch nicht einzigartig. Aber gerade im Kontrast dazu scheint man die Frage, was nun Ostpreußisches von diesem Menschen übrigbleibt, ungleich schwerer beantworten zu können, zumal ja schon 1945 so viel Ostpreußisches verlorengegangen war beziehungsweise zurückgelassen werden musste.

Auf den ersten Blick verbleibt bis auf einige Bernsteinketten und Schwarz-Weiß-Fotos nur wenig und insbesondere nicht das, was unter „normalen“ Umständen selbstverständlich gewesen wäre. So haben die Kinder keinen Zugang zur Heimat der Mutter gefunden – ein weitverbreitetes Phänomen.
Ostpreußisches lebt verdeckt in den Nachkommen weiter
Nachdem Reisen dorthin nach 1990 wieder problemlos möglich waren, hatten sie bereits ein halbes Leben gelebt, ein Leben, in dem der geographische Blick zwar nach Westen, Süden und Norden, nicht jedoch nach Osten gerichtet war. Man kann es ihnen nicht verdenken. Darüber, dass sie auch nach 1990 keinen Weg

nach Ostdeutschland gefunden haben, vermag ich als Angehöriger der Enkelgeneration nicht zu urteilen.
Das Ostpreußische lebt verdeckt in den Nachkommen meiner Großmutter weiter und wird bei dem einen oder anderen in welcher Form auch immer zum Vorschein kommen, so wie beim Verfasser: Durch ein Inserat im Ostpreußenblatt über ein Pfingstlager in Ostpreußen des Jugendverbandes der Landsmannschaft, auf das ich während eines Besuchs bei meiner Oma aufmerksam wurde, war mein Interesse endgültig geweckt. Ich wollte mir selbst ein Bild von diesem Land machen, das ich bis dahin nur aus Erzählungen kannte.

Nach der Teilnahme am Pfingstlager folgten viele weitere Reisen in dieses wunderschöne, wenn auch geschundene und vernarbte Land, alleine oder mit Kollegen des Bund Junges Ostpreußen. Mir tat sich eine völlig neue Welt auf. Brauchtum wie ostpreußische Volkslieder, Volkstänze und Geschichten, aber auch Kriegsgräberpflege standen regelmäßig auf dem Programm. In kaum einer europäischen Region treffen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft so ungefiltert und ungebremst aufeinander wie in dem durch Staats- und Systemgrenzen zerrissenen Ostpreußen.
Schmerzlich bewusst wird einem das, wenn man mitten in Ostpreußen vor den hässlichen Grenzbefestigungen, die die Landschaft zerschneiden, steht und nicht weiterkommt. Gerade hier flammt die Sehnsucht nach einem friedlichen, sicheren und prosperierenden Europa ohne Binnengrenzen und Visumsmauern auf, auch wenn das in diesen Tagen wie ein frommer Wunschtraum erscheint.

Meine ostpreußische Großmutter hat mir eine faszinierende neue Welt eröffnet, die mir sonst wohl verschlossen geblieben wäre: Ostpreußen, ein immer noch unbekanntes und aus der Zeit gefallenes Land mitten in Europa, das wie ein Brennglas unseres Kontinents ist.
Am 23. Dezember 2022 hat ein großes ostpreußisches Herz aufgehört zu schlagen. Ruhe in Frieden, liebe Oma.

Foto: Stationen eines Lebens: Die Großmutter des Autors (4. v. l. hintere Reihe im weißen Kleid bei der Goldenen Hochzeit ihrer Eltern (jeweils 1. v. l.) – und Jahre später beim Spiel mit ihrem Enkel im Garten (um 1977)