29.04.2024

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Folge 08-23 vom 24. Februar 2023 / Träge, aber nicht feige / Russlands Angriff auf die Ukraine hat Deutschland unvorbereitet getroffen. Kanzler Scholz brauchte eine Weile, bis er die richtige Haltung dazu fand. Bis heute tut er sich schwer, zwischen den verschiedenen Interessenlagen deutsche Souveränität zu wahren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 08-23 vom 24. Februar 2023

Träge, aber nicht feige
Russlands Angriff auf die Ukraine hat Deutschland unvorbereitet getroffen. Kanzler Scholz brauchte eine Weile, bis er die richtige Haltung dazu fand. Bis heute tut er sich schwer, zwischen den verschiedenen Interessenlagen deutsche Souveränität zu wahren
Markus C. Kerber

Der einjährige Konflikt um die staatliche Souveränität der Ukraine ist in diesem Ausmaß von wenigen Beobachtern vorausgesehen worden. Warum der BND nicht rechtzeitig in die Erkenntnisse der amerikanischen und britischen Geheimdienste eingeweiht worden ist, bleibt ein Rätsel. Wäre dies geschehen, hätte sich Kanzler Scholz seine anfängliche Appeasement-Taktik schenken können. Die Teilhabe Deutschlands an strategischen Informationen innerhalb des westlichen Bündnisses sollte daher in Zukunft gewährleistet werden. Dazu müsste Deutschland mehr Willen zur Macht zeigen, statt sich von den „Partnern“ permanent Vorhaltungen machen zu lassen. 

Mangelnde Strategiekultur

Seit Beginn des russischen Angriffs ist die Zahl derer, die als pensionierte Generäle, Ex-Diplomaten oder „Militärexperten“ meinen, alles zu wissen und natürlich besser als die Entscheidungsträger zu wissen, stetig gewachsen. Dass Generäle, deren militärische Ausbildung 50 Jahre zurückliegt und die während ihrer aktiven Dienstzeit überwiegend uniformiert in einem Büro gesessen haben, über alle Medienkanäle ihre Einschätzung der operativ-taktischen Lage kundtun, obwohl sie kein exaktes Lagebild haben, scheint eine Besonderheit ehemaliger deutscher Offiziere zu sein. Obschon in einem besonderen Gewaltverhältnis zum Staat stehend, meinen sie, sich keinerlei Zurückhaltung auferlegen zu müssen. In anderen Ländern würden derartig inflatorische Äußerungen ohne Kenntnis der Situation vom Bannstahl der eigenen Kaste getroffen werden. Aber auch Ex-Diplomaten, die es gerade noch zum Gesandten gebracht haben, scheinen angesichts der sich dramatisch zuspitzenden Lage in der Ukraine die Gewissheit zu hegen, dass Deutschland „feige“ sei und als Bündnispartner nichts tauge. 

Dass darüber hinaus viele Medien Neulingen im Militärwesen den Status von Experten zuerkannt haben, um sie als solche um die Bekundung ihres Halbwissens zu bitten, wirft ein bezeichnendes Licht auf eine Branche, die sich eigentlich als Mitarbeiter der Wahrheit verstehen sollte. Es zeigt auch das große deutsche Defizit: keine Strategiekultur. Dort, wo in Washington, Paris und London Denkfabriken im Wettbewerb untereinander Strategievorschläge in die Öffentlichkeit bringen, wächst in Berlin die Wüste. So bleibt Deutschland ohne Kompass.

 Gewiss ist der Bundeskanzler – genauso wie die gesamte politische Klasse – auf den am 24. Februar 2022 ausgebrochenen Konflikt intellektuell unvorbereitet gewesen. Dass wieder einmal der BND entweder Erkenntnisdefizite hatte oder seine Erkenntnisse nur unzureichend der politischen Führung mitteilte, verstärkt den seit dem Afghanistan-Desaster erschallenden Ruf nach institutionellen Reformen und personellen Konsequenzen bei den deutschen Diensten. Doch wird seit dem 24. Februar 2022 in der Politik daran gearbeitet, die Zeitenwende zu verinnerlichen und die sich hieraus ergebenden militärisch-taktischen und strategisch-rüstungspolitischen Konsequenzen zu ziehen.

Hürden der Wehrstruktur 

Hier liegt viel brach, wenngleich mit der Ernennung von Boris Pistorius zum Verteidigungsminister der Versuch unternommen wurde, einen – überfälligen – neuen Anfang zu wagen. Dieser wird indessen nur gelingen, wenn nicht nur alle Potentiale beschleunigter Rüstungsbeschaffung im Rahmen des geltenden Beschaffungsrechts ausgenutzt werden, sondern wenn es endlich gelingt, das Beschaffungsamt in Koblenz entgegen der gegenwärtigen grundgesetzlichen Rechtslage gemäß Artikel 87 b des Grundgesetzes zu einer weisungsgebundenen Behörde des Bundesverteidigungsministeriums zu machen. Anders wird man der Selbstbeschäftigung dieser „Bedarfsdecker“ niemals Herr werden, zumal die künstliche Aufspaltung von Bedarfsdecker (BaainBW) und Bedarfsträger (Bundeswehr) den Nachfrageprozess bei hochtechnologischen Rüstungsgütern unnötig verkompliziert. Der deutsche Sonderweg auf diesem Gebiet hatte sich seit Langem als Irrweg erwiesen. In der gegenwärtigen Ausrüstungsnotlage ist er nicht länger zu rechtfertigen. 

Mühen mit den Partnern 

Abgesehen von dieser nur von Regierung und Opposition gemeinsam vorzunehmenden Grundgesetzänderung dürften die andauernden Forderungen des ukrainischen Präsidenten nach Kampfjets und die Vorstöße des stellvertretenden Außenministers Melnyk zur Überlassung von deutschen U-Booten an die Ukraine ein neues Licht auf jene Bewertungen werfen, die von den oben genannten Juroren des Zeitgeschehens vom Spielfeldrand getroffen wurden. Die Scholzsche Formel, bislang in Deutschland konsensfähig, „Russland darf nicht gewinnen und die Ukraine darf nicht verlieren“ bedeutet für das Engagement Deutschlands eine schwierige Gradwanderung. Zwar ist die Belieferung eines angegriffenen Landes mit Kriegsmaterial völkerrechtlich nicht als eine Kriegserklärung und Teilnahme an diesem Konflikt zu werten. Doch zum einen dürfte die „Teilnahme“ der USA an diesem Konflikt nicht dadurch entfallen, dass die US-Militärberater, die ukrainische Soldaten in der Ukraine an Raketenwerfern schulen, keine Uniform tragen. 

Zum andern schert sich die Russische Föderation mitnichten ums Völkerrecht, sondern nimmt für sich das Recht in Anspruch, über die Feindschaft und damit die Kriegserklärung souverän zu entscheiden. Angesichts von Tausenden von Atomsprengköpfen unter der Verfügungsgewalt eines diktatorischen Präsidenten müssen sich die zahlreichen Ratgeber und Kritiker am Spielfeldrand des Geschehens die Frage stellen, warum eine Atommacht kapitulieren sollte. Hinzu kommen die anhaltende mediale  Intoxikation der russischen Bevölkerung und scheinbar ein wirtschaftliches Durchhaltevermögen von Putins Russland, die eine Fortdauer des Krieges leider erwarten lassen. 

Dass in dieser Situation der deutsche Bundeskanzler nicht auf Zuruf Kampfpanzer der letzten Generation an die Ukraine liefert, sondern zumindest abwartet, bis eine gemeinsame Lieferung mit dem wichtigsten Bündnispartner USA erfolgt, entspricht der Logik jenes strategischen Ziels, das zuvor beschrieben worden ist. Die russische Angriffsmaschinerie soll ermüdet werden und von sich aus diesen Eroberungskrieg aufgeben. Die ukrainischen Streitkräfte sollen befähigt werden, sich zu verteidigen. Hingegen sollen sie nicht vom Westen in die Lage versetzt werden, über die Grenzen der Ukraine hinaus kriegerisch tätig zu werden. Artillerieschläge tief in das Territorium Russlands – als Präventivschlag bezeichnet – dürften daher problematisch sein. 

Die Forderung des stellvertretenden ukrainischen Außenministers nach deutschen U-Booten, um Russland aus dem Schwarzen Meer zu vertreiben, zeigt, wozu die ukrainische Führung willens ist. Es ist ein gefährliches Postulat, von Deutschland eine Technologie zu fordern, um Russland den Zugang zu einem internationalen Gewässer militärisch zu nehmen. Hier hat sich der ehemalige, stets lautstarke, ukrainische Botschafter in Deutschland selbst entblößt, weil sein Kriegsziel eindeutig völkerrechtswidrig ist. 

Mut zur Souveränität

Deutschland, die Macht in der Mitte, zwar mittelmäßig regiert durch eine Ampelkoalition, darf sich in dieser Situation nicht irre machen lassen. Will die deutsche Außenpolitik Souveränität zurückgewinnen, so sind Äußerungen wie die von Frau Baerbock, man befinde sich im Krieg gegen Russland, genauso gefährlich wie die ausstehenden deutschen Antworten auf das ständige Trommelfeuer aus Warschau. Polen sieht in dem Konflikt um die Sezession der Ukraine die historische Chance zu einem Kreuzzug gegen den altbösen Feind Russland. Zu diesem Zweck setzt es Deutschland unter Druck und postuliert – neben den geradezu obszönen Reparationsforderungen in Höhe von 1,3 Billionen Euro – die Lieferung modernster Leopard-Panzer. Was soll man von einem Verbündeten halten, der seine alten T72 Panzer aus russischer Produktion der Ukraine schenkt, obwohl sie für die Besatzungen mit größten Gefahren verbunden sind, und sich gleichzeitig anschickt, vom ungeliebten Nachbarn Deutschland hochmodernen Ersatz zu fordern? Im Übrigen hatte Polen Leopard-Panzer vor einigen Jahren zum Spottpreis von Deutschland erhalten, es aber vorgezogen, bei der Logistik eigene Wege zu gehen, statt sich der Familie von Leopard-Nutzern anzuschließen.

Der Bundeskanzler ist kein Meister der Kommunikation. Seine Kühlschrank-Rhetorik passt nicht zur Dramatik des gegenwärtigen Geschehens. Er war in den letzten Wochen auf diesem Gebiet schlecht beraten. Aber er weiß genau, was er will, und er weiß ebenso genau, was er nicht will: die weitere Eskalation des Sezessionskriegs zu einem überregionalen Konflikt mit der Gefahr eines Weltenbrandes, in dem weder Kampfpanzer noch Kampfjets oder gar U-Boote zu dem führen, was früher oder später doch eintreten muss, um den Krieg zu beenden: Verhandlungen. 

Nicht nur Putin hat ein Interesse an einer Verhandlungslösung, weil ein Konflikt dieser Dimension auf die Dauer an seinem Stuhl sägt. Auch der zunehmend uneinige Westen mit vielen Ländern, die ihre eigene Agenda wie beispielsweise Polen haben, kann es sich nicht leisten, sich immer weiter in einer überregionalen kriegerischen Auseinandersetzung zu verstricken. Wenn in einer solchen Situation die Lieferung von militärischer Hochtechnologie nur mit Konditionalitäten von der Bundesregierung bewilligt wird, so liegt darin kein Beleg von Feigheit, sondern ein Stückchen Mut zur Souveränität. Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland wird nicht durch eine Erfüllungspolitik gegenüber Herrn Melnyk und der polnischen Regierung bewiesen, sondern durch die beharrliche Definition eines Kurses, der die Selbstverteidigung der Ukraine zwar ermöglicht, aber die Tür offen hält für eine Verhandlungslösung und der Versuchung, aus diesem Sezessionskrieg einen Weltenbrand zu machen, entschieden entgegentritt. 

Die Anmaßungen der EU

Indes müsste der deutsche Kanzler diesen Mut auch gegenüber dem EU-Außenbeauftragten Borrell zeigen, der seine Funktion zunehmend mit der eines EU-Verteidigungskommissars verwechselt. Die deutsche Weigerung, die Kompetenzausweitung der EU in der Verteidigungspolitik hinzunehmen, stände einer souveränitätsbewussten Außenpolitik des deutschen Kanzlers gut zu Gesicht. Es scheint nämlich, dass die Kommissions-Gewaltigen in Brüssel in dem Krieg ihre große Chance wittern, der EU neue außen- und sicherheitspolitische Zuständigkeiten zuzuschanzen. Obwohl dieser Politikbereich den Mitgliedstaaten prinzipiell vorbehalten ist und ein EU-Handeln – so durch den Hohen Repräsentanten Borrel – stets die Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten voraussetzt, handelt die Kommission in der Öffentlichkeit nach dem Motto: „Wir machen die Musik.“ 

Die Show-Besuche von Kommissionspräsidentin von der Leyen, die sich zur Evita Peron der EU gemausert hat, in Kiew, der triumphale Empfang des Präsidenten Selenskyj in Brüssel mit „Welcome to the family!“ sowie die trivialen Reden von EU-Ratspräsident Michel sollen dem Publikum suggerieren: Eine Quasi-EU-Bundesregierung hat bereits über den Beitritt der Ukraine entschieden. Hier geben sich zwei Schausteller-Teams brüderlich die Hand, um den souveränen Nationen der EU vorzuschreiben, wie und wann der Beitritt der Ukraine zur EU erfolge. Was muss noch passieren, um eine kompetenzielle Klarstellung durch die Bundesregierung zu erwirken? Die Deutschen warten auf ein Machtwort ihres Kanzlers an die Adresse der EU-Kommission. Und zwar unverzüglich. 






Prof. Dr. Markus C. Kerber ist Professor für Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik an der Technischen Universität Berlin. 1998 gründete er den interdisziplinären Thinktank Europolis, um an der Neuausrichtung der europäischen Ordnungspolitik mitzuarbeiten. 

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