Die Grünen waren schockiert über das Umschwenken der SPD. Wie gemein! Nun beschimpft man sich gegenseitig. Das Motto ist hundert Jahre alt: Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Ein Teil der Enttäuschung rührt wohl auch daher, dass die Grünen sich inzwischen – nicht nur in Berlin – als die wahre Staatspartei der bunten Republik wähnen. Vor gut vierzig Jahren als basisdemokratische Protestpartei gestartet, besetzen sie nicht nur flächendeckend hohe und höchste Ämter, daneben zahlreiche Chefposten großer Lobbyverbände – auch in den Medien hat sich der grüne Zeitgeist ausgebreitet wie das Wurzelwerk einer dreihundertjährigen Eiche. Konservative Fernsehjournalisten gibt es nur noch in den Medienarchiven aus grauer Vorzeit, und bei den NGOs, den unzähligen „Nicht-Regierungsorganisationen“ und Aktivistenverbänden aller Art, dürften die Grünen auf eine Anhängerschaft von knapp 100 Prozent kommen.
Staatspartei der bunten Republik
In vielen Großstadtbezirken sind die Grünen mit rund vierzig Prozent der Stimmen Volkspartei. In Friedrichshain-Kreuzberg ist die CDU dagegen eine minoritäre Splittergruppe. Hier hat das linksradikale Milieu von Autonomen und Hausbesetzern aus den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts überwintert und profitiert nun von grüner „Staatsknete“ und dem berüchtigten „Kreuzberger Landrecht“, bei dem Stadträte sich als verlängerter Arm der „Betroffenen“ im Kiez verstehen und auch schon mal versuchen, die Gesetze flexibel auszulegen.
Streng ist man dagegen bei der Umsetzung der „Verkehrswende“ – so wie am traditionsreichen Chamissoplatz, der durch 68 rotweiße Poller derart verunstaltet wurde, dass sich immerhin nachträglich der Denkmalschutz eingeschaltet hat. Selbst hartgesottene Ex-Hausbesetzer haben deshalb im Wahllokal um die Ecke mit zitternder Hand zum ersten Mal in ihrem Leben CDU gewählt. Früher hätte man gesagt: Mit Wut, Trauer und Betroffenheit!
Es könnte durchaus ein Zeichen sein, dass der seit Jahren anhaltende bundesweite grüne Höhenflug sich seinem vorläufigen Ende nähert. An allen Ecken und Enden bedroht die schnöde Realität den grünen Traum von Bullerbü, die Utopie einer konfliktfreien, klimaneutralen Welt aus Toleranz, Inklusion und Nachhaltigkeit, in der es keine antifeministische Meldestelle mehr brauchen wird, weil alle Männer, ob „cis“, „trans“ oder „queer“, Feministen geworden sind und die Geflüchteten aus Afghanistan, Syrien und Irak den Begriff der „feministischen Außenpolitik“ schon am ersten Tag ihres Sprachkurses lernen, bevor es daran geht, die Funktionsweise einer Wärmepumpe zu verstehen. R.M.