05.05.2024

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Folge 10-23 vom 10. März 2023 / „Die Luft abgedreht“ / Bei der Bekämpfung des in Deutschland beheimateten ersten privaten Raumfahrtunternehmens, der OTRAG (Orbital Transport und Raketen Aktiengesellschaft), waren die Gegner aus Ost und West nicht zimperlich

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 10-23 vom 10. März 2023

„Die Luft abgedreht“
Bei der Bekämpfung des in Deutschland beheimateten ersten privaten Raumfahrtunternehmens, der OTRAG (Orbital Transport und Raketen Aktiengesellschaft), waren die Gegner aus Ost und West nicht zimperlich
Stefan Piasecki

Eine Rakete aus Fertigbauteilen, angefeuert von einem Gemisch aus Salpetersäure und Dieselöl, privat finanziert von anonymen Geldgebern, entwickelt von einem jungen deutschen Ingenieur mit der Hilfe bekannter vormaliger Raketentechniker der Heeresversuchsanstalt Peenemünde und beraten von einem Bundeswehrgeneral, getestet auf einem Ende 1975 für Jahrzehnte gepachteten Versuchsgelände in Afrika von der Größe der DDR und bekämpft von Geheimdiensten aus Ost und West – hier entfaltet sich nicht der Stoff eines James-Bond-Films der 60er Jahre, sondern die Geschichte von Lutz T. Kayser, eines verbissen um seine Ziele kämpfenden Mannes, von Abschreibungsmöglichkeiten im deutschen Steuerrecht und dem fehlenden Widerstand der Bundesregierung gegen Druck aus dem Ausland.

Die Ziele der 1974 gegründeten OTRAG (Orbital Transport und Raketen Aktiengesellschaft) waren himmelstürmend. Durch Modularisierung und Verwendung bereits verfügbarer Bestandteile wollte die OTRAG eine günstige Möglichkeit anbieten, Satelliten auf bis zu 300 Kilometer Höhe in eine Erdumlaufbahn zu bringen. Dabei sollten die Kosten 50 Prozent unter jenen der NASA liegen. Sie verfügte für ihre Studien anfänglich über staatliche Förderungen. 

Billige Rakete aus Fertigbauteilen

Doch nicht zuletzt auf französischen Druck hin konzentrierte sich die Bundesregierung auf das europäische ESA-Projekt. Dadurch war die OTRAG zunächst von wichtigen Finanzierungsmöglichkeiten abgeschnitten, wurde jedoch im deutschen Steuerrecht fündig. 

Mithilfe des Leiters des Finanzamtes Offenbach-Land wurde das Abschreibungsrecht aktiv und kreativ durchleuchtet und Verlustzuweisungsmöglichkeiten von bis zu 200 Prozent identifiziert. Die Steuerersparnis der Anteilsnehmer gestaltete sich dadurch größer als ihr Einsatz. Daher sprudelten bald private Geldquellen, und der Staat verlor Möglichkeiten der Einflussnahme.

Kurt Heinrich Debus, bereits im Krieg Raketenforscher und danach Direktor des John F. Kennedy Space Center (KSC) der NASA, übernahm den Vorsitz des Aufsichtsrates der OTRAG. Schon Mitte der 1960er Jahre war die Gruppe um Kayser von Eugen Sänger, einem weiteren Peenemünder, unterstützt worden und kam durch ihn mit anderen Größen der deutschen Luftfahrtindustrie wie der Bölkow GmbH in Kontakt (später Messerschmitt-Bölkow-Blohm GmbH (MBB)). 

Steuerliches Abschreibemodell

Die Bekanntschaft zu einflussreichen Persönlichkeiten der internationalen Luft- und Raumfahrtindustrie öffnete für Kayser viele Türen, rief aber auch Widerstand hervor. In einem Memorandum der MBB vom 17. März 1972 zitierte diese aus einem Gutachten des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft (BMBW) schlussfolgernd, dass die OTRAG-Technologie „wegen zahlreicher noch ungelöster technischer Probleme jetzt und auch in absehbarer Zeit nicht als echte Alternative vorgeschlagen werden“ könne.

Damit nicht genug, blieb auch der bekannte Raketenwissenschaftler Heinz-Hermann Koelle von der TU Berlin in einer Gedankenskizze vom Dezember 1975 sarkastisch: Mithilfe von Raketen könne man alles zum Fliegen bringen, auch Scheunentore. Er urteilte knapp: „Unsinn“. Allerdings war Koelle zuvor Direktor des Marshall Space Flight Centers (MSFC) der NASA gewesen und damit der ökonomischen Konkurrenz verbunden – sein Papier floss demnach wohl nicht zufällig in einen Artikel der Zeitschrift „Stern“ ein, der unter dem Titel „Riesenbluff im Kayser-Reich“ die OTRAG in einen historischen und geopolitischen Zusammenhang mit kolonialer Machtpolitik in Afrika stellte. Aus derartigen Konfliktlinien konnte sich die OTRAG – und die Bundesregierung – nicht mehr entwirren.

Paris intervenierte für die ESA

Anfang 1976 war die OTRAG gewarnt und ließ eine Markteinschätzung vorlegen. Diese bot einen Überblick über die bisherige nichtkommerzielle Raumfahrt vor allem der NASA und konzentrierte sich dann auf die „wichtigsten Konkurrenten der von OTRAG geplanten Billigrakete“. Die Studie nahm abschließend einen Vergleich mit dem amerikanischen Shuttle-Programm vor und urteilte, dass dieses aus Kostengesichtspunkten praktisch keinen Vorteil gegenüber den OTRAG-Raketen biete und deshalb „grundsätzlich günstige Voraussetzungen für eine kommerzielle Auswertung des OTRAG-Trägerkonzeptes gegeben“ schienen. Die TU München ihrerseits erstellte ein Gegengutachten mit vernichtendem Urteil über sowohl das OTRAG-Projekt als auch deren Machbarkeitsstudien. 

Konkurrenz für die NASA 

Zu diesem Zeitpunkt waren der OTRAG im sowjetischen KGB und dem Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit (MfS) längst neue Gegner erwachsen. Der Stasi-Agitator Julius Mader gab in einem Memorandum die später von DDR-Zeitungen (und von beeinflussten Westzeitungen) übernommene Leitlinie vor: OTRAG sei die Speerspitze der faschistischen Waffenindustrie der BRD und der Versuch, internationale Waffenkontrollprogramme (WEU-Vertrag) und die Deutschlandverträge der Alliierten zu umgehen. Dies war laut Aktenlage zwar nachweislich falsch. Falschinformationen über die OTRAG lagen jedoch im Interesse von vielen. 

Schon am 25. Oktober 1971 hatte sich das MfS für Kayser und andere an der OTRAG Beteiligte interessiert. Die Versuche schlugen fehl: Kayser sei nicht zu kontaktieren und werde nicht in die DDR einreisen. Dennoch wurde die Überwachung im Westen weitergeführt, wie protokollierte Abhöraktionen von Autotelefongesprächen der OTRAG-Manager und solche aus Bonner Ministerien belegen.

Agitation von KGB und Stasi

Vonseiten der Sowjetunion richteten sich die stärksten Geschütze gegen das kleine Unternehmen. Politisch und propagandistisch wurde international Stimmung gemacht: Ein sowjetischer Militärattaché veröffentlichte in einer finnischen Zeitung einen Artikel über im deutschen Auftrag entwickelte Mittelstreckenraketen in Zaire. Diese Nachricht wurde von einem tansanischen Regierungsblatt in Daressalam übernommen. Daraufhin veröffentlichte die sowjetische „Prawda“ einen Kommentar, in dem sie sich auf den tansanischen „Tatsachenartikel“ berief. Ab diesem Moment galt die Information als seriöse Nachricht, die von Presseagenturen weltweit aufgegriffen wurde. 

In politischer Hinsicht machte die Sowjetunion mit einer Verbalnote an die Westalliierten Druck gegen die OTRAG, die eine Tarnorganisation des Bonner Verteidigungsministeriums darstelle und somit aufzulösen sei. Zwar wiesen die Westalliierten diese Darstellung Mitte 1978 zurück. Dennoch verstärkten MfS und KGB in der Folgezeit ihre internationale Agitation und warfen der Bundesrepublik Imperialismus und der OTRAG Waffenhandel und Kooperation mit der Apartheid-Regierung in Südafrika vor. 

Bonn knickte ein

All das war schierer Unfug. Längst bezog die östliche Wühlarbeit aber auch befreundete oder neutrale Staaten in Afrika mit ein und führte zu Anklagen seitens Nigerias oder Sambias gegenüber Bundeskanzler Helmut Schmidt auf seiner Afrikareise 1978. Auch der Vorschlag Kaysers, das Raketenprogramm unter die Aufsicht der Vereinten Nationen zu stellen, half nicht mehr viel. Die Bundesregierung, die sich noch am 12. Januar 1978 bei dem sowjetischen Botschafter in Bonn über die unsachliche Propaganda beschwert und betonte hatte, keinerlei Anhaltspunkte über eine militärische Verwendbarkeit der Raketen und keine Verstöße gegen völkerrechtliche Kontrollverpflichtungen feststellen zu können, verlor erkennbar Lust zur Widerrede. Daher fasste eine Analyse des Auswärtigen Amtes zusammen, dass von der OTRAG zwar keine Gefahr ausgehe, der Raketenstart vom 15. Mai 1977 jedoch zweifellos der „erste deutsche Raketenstart seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges“ gewesen sei und er daher eine Signalwirkung habe. Es folgten sukzessive Verschärfungen von Exportbestimmungen und das Schließen der steuervergünstigenden Schlupflöcher. 

Nun wurde das Geschäftsmodell der OTRAG ernsthaft gefährdet und beschädigt. In einem am 13. Mai 1979 von der Staatssicherheit abgehörten Autotelefongespräch wurde die finanzielle Situation seitens des OTRAG-Mitarbeiters als prekär geschildert. Kanzler Schmidt sei nicht zugänglich, der habe der OTRAG „die Luft abgedreht“, belauschte die Stasi.

Misserfolg in Zaire 1978

Erfolgreiche Testflüge konnten trotz allem im Mai 1977 und im Juni 1978 durchgeführt werden. Bei einem wichtigen Test in Anwesenheit des Präsidenten Mobutu Sese Seko stürzte die Rakete ab und zerschellte in einer Schlucht. Der sich verstärkende politische Druck führte im April 1979 zu einer Auflösung der Verträge durch den zairischen Diktator. Kurz vor dem Abzug der OTRAG-Mannschaften ertranken bei einer letzten Bootsfahrt im Oktober 1979 sieben Techniker.

In den Folgejahren wich die OTRAG dem Druck in Deutschland durch eine Verlagerung der Versuchsstätten nach Libyen aus und geriet dadurch noch tiefer in den Verdacht illegaler Aktivitäten. 1986 wurde die Gesellschaft liquidiert, ein Teil der Mitarbeiter blieb auch danach noch in verschiedenen Funktionen in Libyen und Nordafrika.

Aus heutiger Sicht ist die Durchführbarkeit der OTRAG-Projektionen fraglich. In historischer und geopolitischer Hinsicht hingegen ist aufschlussreich, wie schnell technische Innovationen auf internationalen Verdacht stoßen, in üble Nachrede geraten und nicht auf belebende Konkurrenz treffen, sondern von verschiedenen Interessenten und Gruppen im Keim erstickt werden sollen.

Prof. Dr. Stefan Piasecki ist Soziologe an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen in Duisburg. Daneben ist er Autor von historischen Romanen, von denen er einige unter dem Pseudonym Stefan Boucher veröffentlich hat. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Himmelsleiter“. 

www.stefanboucher.de





Kurzbiographien

Kurt Heinrich Debus war von 1962 bis 1974 Direktor des Kennedy Space Center und von 1975 bis 1980 Vorsitzender des Aufsichtsrates der OTRAG.

Heinz-Hermann Koelle wurde 1960 Direktor des Marshall Space Flight Center der NASA. Ab 1965 leitete er das Institut für Raumfahrttechnik an der TU Berlin.

Mobutu Sese Seko war ab 1965 Präsident der Demokratischen Republik Kongo, die von 1971 bis Mobutus Sturz im Jahre 1997 den Namen „Republik Zaire“ trug.