05.05.2024

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Folge 10-23 vom 10. März 2023 / Seelenkunde / Mythen der Alltagspsychologie / Wir glauben, „den Menschen“ zu kennen. Doch viele vermeintliche Einsichten, die wir meinen, über die Eigenheiten unserer Artgenossen gewonnen zu haben, halten keiner wissenschaftlichen Prüfung stand

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 10-23 vom 10. März 2023

Seelenkunde
Mythen der Alltagspsychologie
Wir glauben, „den Menschen“ zu kennen. Doch viele vermeintliche Einsichten, die wir meinen, über die Eigenheiten unserer Artgenossen gewonnen zu haben, halten keiner wissenschaftlichen Prüfung stand
Wolfgang Kaufmann

Die Psychologie ist beim menschlichen Miteinander praktisch immer präsent. Zugleich hat man im Alltag meist wenig Zeit und eine Unzahl von Problemen zu bewältigen. Hieraus resultieren ebenso simple wie falsche Antworten auf die Herausforderungen des sozialen Lebens, wie sie typisch für die nichtwissenschaftliche Alltagspsychologie sind. Dabei ergeben sich die Fehldeutungen verblüffenderweise immer aus den gleichen Ursachen. 

So hält mancher unter uns gerne das für wahr, was auch viele andere seiner Zeitgenossen glauben oder erzählen. Darüber hinaus neigt der Mensch im Grundsatz dazu, eher die Informationen zu berücksichtigen, welche sein Weltbild stützen. Und er schließt von sich auf andere. Dazu kommen Übertreibungen und naive Vorstellungen von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. Das alles bildet den Nährboden für zahlreiche Mythen der Alltagspsychologie, von denen die 30 hier genannten am weitesten verbreitet sind beziehungsweise am ehesten als wahr angesehen werden:

30 gängige Vorurteile

1. Wir nutzen im Normalfall nur ganze zehn Prozent unserer Gehirnleistung, weshalb Trainingsprogramme zur Steigerung der Hirnleistung Wunder wirken. 

2. Menschen denken entweder vorrangig mit der analytisch-logischen linken Gehirnhälfte oder der emotional-kreativen rechten Hirnhälfte. 

3. Die Physiognomie, also die Form des Schädels und Gesichts, verrät etwas über die Persönlichkeit. 

4. Bei der Partnerwahl siegt das Prinzip „Gegensätze ziehen sich an“ über „Gleich und gleich gesellt sich gern“. 

5. Frauen sind emotionaler als Männer und reden daher auch mehr als diese. 

6. Aus der Handschrift eines Menschen lassen sich Informationen über dessen Eignung für bestimmte berufliche Tätigkeiten ableiten. 

7. Durch Autosuggestion kann man im Leben mehr Erfolge erzielen. 

8. Es ist möglich, im Schlaf neue Inhalte wie die Vokabeln einer Fremdsprache zu erlernen. 

9. Die Richtung, in die jemand beim Nachdenken blickt, verrät etwas über seinen Charakter und aktuelle psychische Vorgänge. 

10. Unterschwellige Werbebotschaften verleiten zum Kauf, ohne dass der Kunde dies merkt. 

11. Säuglingen regelmäßig Musik von Wolfgang Amadeus Mozart vorzuspielen, steigert deren Intelligenz. 

12. Auf die gleiche Weise erzogene Kinder entwickeln später auch gleiche Persönlichkeiten. 

13. Die Pubertät ist üblicherweise eine Phase der Rebellion, Konflikte und Identitätsstörungen. 

14. Menschen, die als Kind sexuell missbraucht wurden, neigen als Erwachsene dazu, selbst zu Missbrauchstätern zu werden. 

15. Bei der Mehrzahl der Männer im Alter zwischen 40 und 50 Jahren kommt es zur Midlife-Crisis. 

16. Wer unter Schizophrenie leidet, hat entweder eine gespaltene oder eine multiple Persönlichkeit. 

17. Selbstmorde resultieren fast immer aus schweren Depressionen. 

18. Bei Vollmond werden mehr Gewalttaten begangen als sonst. 

19. Stress ist die absolute Hauptursache für die Entstehung von Magengeschwüren. 

20. Übersinnliche Wahrnehmungen in Form von Telepathie und Hellsehen sind wissenschaftlich bestätigte Phänomene. 

21. Beim Deuten von Tintenklecksen kommen die wahre Persönlichkeit des Menschen sowie seine verborgenen Motive oder Triebe zum Vorschein. 

22. Die allermeisten Autisten verfügen über besondere oder gar herausragende intellektuelle Fähigkeiten. 

23. Hochbegabte haben mehr Probleme im sozialen Umgang als normal Begabte. 

24. Für eine erfolgreiche Psychotherapie ist es zwingend nötig, die Kindheit des Patienten aufzuarbeiten. 

25. Frauen sind eher in der Lage, mehrere Aufgaben gleichzeitig und dabei auch noch effektiv zu erledigen (Multitasking). 

26. Bestimmte Posen, die sogenannten Power-Posen, machen mutiger. 

27. Willenskraft und Selbstkontrolle gehören zu den begrenzten Ressourcen, die mit der Zeit aufgebraucht werden. 

28. Der Zeitpunkt der Geburt bestimmt die spätere Persönlichkeit eines Menschen. 

29. Es gibt „Schaltkreise“ im Gehirn, die klar definierte Emotionen auslösen. 

30. Jeder von uns durchlebt im Sterbeprozess die aufeinanderfolgenden Phasen Ablehnung, Zorn, Verhandeln, Depression und Zustimmung.

Mag alles mehr oder minder plausibel klingen, das Problem ist nur: Nichts von alldem wurde bislang im wissenschaftlichen Experiment bewiesen oder anderweitig empirisch belegt. Stattdessen deuten die Ergebnisse der psychologischen Forschung meist darauf hin, dass das Gegenteil der Fall ist.

Die Wahrheit ist viel komplexer

Aber auch universitär ausgebildete Psychologen sind keinesfalls gegen Irrtümer gefeit. Viele zunächst vermeintlich sichere Erkenntnisse aus Labor- oder Feldversuchen konnten bei standardisierten Wiederholungen derselben durch andere Forscher nicht bestätigt werden. So ist es offenkundig falsch, dass Lächeln glücklich macht, wie die zunächst eifrig propagierte Mimik-Feedback-Hypothese besagt, der zufolge der Gesichtsausdruck nachfolgend auch die Emotionen beeinflusst. 

Des Weiteren sind Säuglinge wohl doch keine geborenen Nachahmungskünstler, was menschliche Gesten und Geräusche betrifft. Und die 2005 weltweit mit großem Interesse aufgenommene Züricher Studie, derzufolge das „Kuschelhormon“ Oxytocin zu mehr Vertrauensseligkeit führt, wurde bislang ebenfalls noch nicht repliziert. Gleichermaßen unbestätigt blieb der angebliche Pilatus-Effekt, demzufolge Schuldgefühle beim Händewaschen schwinden. 

Ebenso zeigten neuere Studien, dass es offenbar auch keine Winterdepression gibt und die zunächst weithin anerkannte Formel des britischen Verhaltensforschers Gilbert Roberts „Wer sich beobachtet fühlt, handelt auch deutlich ehrlicher und altruistischer“ trotz aller Plausibilität so nicht gültig ist.

Manchmal liefern also weder die Alltags- noch die wissenschaftliche Psychologie brauchbare Erklärungen für das Fühlen und Verhalten von Menschen. Das liegt zum einen daran, dass das Leben und somit auch die Situationen im täglichen Miteinander in aller Regel viel zu komplex sind. Zum anderen ist der Mensch keine genormte „Massenware“, die nach einfachen, schnell zu durchschauenden Schemata funktioniert, sondern ein Individuum, dessen psychische Entwicklung und Verfassung von unzähligen Faktoren bestimmt wird. Deshalb taugt er auch immer wieder für positive oder negative Überraschungen.