05.05.2024

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Folge 10-23 vom 10. März 2023 / Für Sie gelesen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 10-23 vom 10. März 2023

Für Sie gelesen

Rückständig durch Kirche?

„Wir haben irgendetwas im Blut, das jeden Fortschritt verhindert“, schrieb 1828 der Puschkinfreund Pjotr Tschaadajew in seinen „Philosophischen Briefen“. Der Zar hielt den Verfasser für „verrückt“. Die Autoren der beiden Taschenbücher „Russische Geschichte“ und „Die rückständige Großmacht Russland und der Westen“, die emeritierten Professoren Andreas Kappeler und Manfred Hildermeier, machen sich ein so rigoroses Urteil nicht zu eigen. Beide haben Putins Angriffskrieg zum Anlass genommen, ihre Forschungen auf aktuelle Fragen zu konkretisieren, um zum Verständnis der gegenwärtigen Situation beizutragen.

Ein „verzögertes Wirtschaftswachstum“ sieht Kappeler. Die meisten Zaren bis hin zu den heutigen russischen Politikern sahen einen Nachholbedarf gegenüber dem Westen. Das größte Land der Erde hat genug Bodenschätze. In der Waffenproduktion und Raumfahrt wurden Spitzenleistungen erbracht, es fehlte aber das Kapital. Seit der Jahrtausendwende betrug der Anteil der ausländischen Direktinvestitionen bis zu einem Drittel der Gesamtinvestitionen. Dabei kam der Löwenanteil aus Ländern der EU. Die ersten goldenen Jahre der Putinära – so Hildermeier – fanden mit der internationalen Bankenkrise ihr abruptes Ende. Putin habe versäumt, seine Wirtschaft konkurrenzfähig zu machen.

Interessant ist, wie Kappeler und Hildermeier die Rolle der Orthodoxie betrachten. Letzterer sieht in der Kirchenspaltung von 1054 die Ursache für die Entfremdung Russlands von Europa, dessen Überlegenheit erst spät wahrgenommen wurde. Die lateinische Welt war nicht nur zum religiösen Feindesland geworden. Es dauerte lange, bis Architekten, Bergbauspezialisten, Ärzte und Handwerker aller Art nach Russland gelockt wurden. „Die Öffnung nach Westen rief Gegner auf den Plan, in erster Linie die Orthodoxie, die jegliche Freundlichkeit gegenüber den lateinischen Ketzern mit größtem Argwohn beobachtete.“ Sie mussten in der Deutschen Vorstadt Moskaus leben und durften kein orthodoxes Personal beschäftigen. Ein Verbot, russische Kleidung zu tragen, machte die förmlichen Schranken auch nach außen sichtbar. Einerseits brauchte man die technische, ökonomische und militärische Hilfe der „katholischen Teufel“, mied jedoch die kulturell-religiöse Annäherung. In unterschiedlicher Form überdauerte dies die Jahrhunderte.

Stalin brauchte die Kirche während des Krieges, aber erst Jelzin holte sie  wieder an seine Seite. Putin folgte seinem Beispiel. Nach Meinung Kappelers wird die Orthodoxie trotz aller Lippenbekenntnisse der heutigen politischen Führung ihre frühere Bedeutung nicht wiedererlangen.Norbert Matern

Andreas Kappeler: „Russische Geschichte“, C.H. Beck Verlag, München 2022, kartoniert, 121 Seiten, 12 Euro 

Manfred Hildermeier: „Die rückständige Großmacht Russland und der Westen“, C.H. Beck Verlag, München 2022, kartoniert, 271 Seiten, 18 Euro