08.05.2024

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Folge 11-23 vom 17. März 2023 / Lesen ist immer lebensgefährlich / Damit durch Lektüre kein lebenslanges Trauma ausgelöst wird – Klassische Texte werden immer häufiger zeitgeistgemäß gesäubert

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-23 vom 17. März 2023

Lesen ist immer lebensgefährlich
Damit durch Lektüre kein lebenslanges Trauma ausgelöst wird – Klassische Texte werden immer häufiger zeitgeistgemäß gesäubert
Harald Tews

Lassen Sie uns eine kleine Korrektur eines Reims von Erich Kästner vornehmen: „Wird’s besser? Wird’s schlimmer?, fragt man alljährlich. Aber seien wir ehrlich, Leben ist immer lebensgefährlich.“ Es hätte durch Austausch eines einzigen Buchstabens auch heißen können: „Lesen ist immer lebensgefährlich.“

Ob dem Dichter die Umdichtung gefallen hätte, wissen wir nicht. Er wusste aber aus eigener Erfahrung, wie gefährlich Literatur sein kann, wenn sie sich nicht in das Bild einer herrschenden Anschauung fügt. In der Zeit des Nationalsozialismus unterzog er sich durch innere Emigration einer Selbstzensur. Statt noch gesellschaftskritische Romane wie „Fabian“ während der Weimarer Zeit, veröffentlichte er nach 1933 nur noch harmlose Jugendbücher wie „Das fliegende Klassenzimmer“ oder Komödien wie „Drei Männer im Schnee“.

Doch inzwischen muss man selbst vorsichtig sein mit dem Begriff „harmlos“ in Bezug auf Jugendliteratur oder Komödien. Die ganze Wucht der neumodischen „woken“ Kultur, also der auf linker Seite „wachsamen“ Ideologieaufseher, bekamen nun an sich „harmlose“ Werke des britischen Autors Roald Dahl (1916–1990) zu spüren. Der mit Kurzgeschichten wie „Küsschen, Küsschen!“ berühmt gewordene Schriftsteller wurde nun selbst das Opfer einer durch verlegerische Zensur erzeugten Umdichtung.

Doch bei ihm geht es nicht um einzelne Buchstaben, sondern um ganze Wörter und Passagen. Besonders hart getroffen hat es sein von Tim Burton verfilmtes Kinderbuch „Charlie und die Schokoladenfabrik“. In einer englischen Neuauflage wird der nimmersatte Augustus Glupsch nicht mehr als „fett“ bezeichnet, sondern als „enorm“. Verboten sind auch Ausdrücke wie „verrückt“, „Idiot“ oder „wahnsinnig“, für die man nun – harmlosere – englische Umschreibungen gefunden hat.

In Dahls Kinderbuch „Matilda“ darf die Schuldirektorin Fräulein Knüppelkuh nicht mehr als „a most formidable woman“ bezeichnet werden, sondern als „a most formidable female“. Dieses Einknicken vor der biologischen Gender-Vielfalt, bei der eine Direktorin nicht einfach nur eine „beeindruckende Frau“ sein darf, sondern eine „Weibliche“, dürfte zu einer Herkulesaufgabe für zukünftige Übersetzer werden. Der „Cancel Culture“, dem Ausschluss unliebsamer Personen, fielen in dem Werk auch die Namen von Joseph Conrad und Rudyard Kipling zum Opfer. Da sie als Kolonialisten gelten, wurden ihre Namen in einer Passage durch die Jane Austens und John Steinbecks ersetzt: „Sie besuchte Landsitze aus dem 19. Jahrhundert mit Jane Austen. Ernest Hemingway folgte sie nach Afrika und John Steinbeck nach Kalifornien.“

Dahls Werke gelten ohnehin als rassistisch kontaminiertes Gelände, da der Autor des Antisemitismus verdächtigt wird. Dennoch protestierte ein Schriftsteller gegen die Säuberung der Sprachpolizisten, der selbst ein Opfer böswilligster Zensur ist. Der in der islamischen Welt wegen seines Buchs „Die satanischen Verse“ verfemte Salman Rushdie sagte: 

„Roald Dahl war kein Engel, aber das ist jetzt ein Fall von absurder Zensur.“

Und ein Fall, der fatal an George Orwells Roman „1984“ erinnert, in dem im „Ministerium für Wahrheit“ alte publizistische Werke in ein „Neusprech“ umgeformt werden. In der ganz realen Welt mussten sich schon der böhmische Kinderbuchautor Otfried Preußler oder Astrid Lindgren mit ihren „Pippi Langstrumpf“-Büchern „sprachliche Modernisierungen“ unterwerfen. „Neger“, „Zigeuner“, „Indianer“ oder „Zwerg“ sind inzwischen zu Tabubegriffen geworden, die in Neuauflagen ersetzt werden.

Diese Rücksichtnahme auf sensible Gemüter, die ein Trauma erleiden könnten, wenn sie solche Ausdrücke lesen, reicht in alle Bereiche der Kunst. In Donald-Duck-Comics hat man Sprechblasen geändert. So wurde aus Fridolin Freudenfett ein Fridolin Freundlich. Und im ZDF hat man kürzlich im Udo-Jürgens-Lied „Aber bitte mit Sahne“ statt „Mohrenkopf“ lieber „Schokokuss“ gesungen.

Wenn das so weitergeht, muss man die gesamte Weltliteratur umschreiben, und zwar angefangen von der Bibel mit ihren Schreckensszenen von Brudermord (Kain und Abel), Blutschande (Amnon und Tamar), Horror (Daniel in der Löwengrube), sexuellem Missbrauch (Susanna im Bade) und Folter (Kreuzigung). Im englischen Sprachraum existieren bereits Warnhinweise in Büchern, die Gewalt (in Shakespeare-Dramen), Mord (Dostojewskis „Schuld und Sühne“), Pädophilie (Nabokovs „Lolita“) oder Rassismus beinhalten. Mark Twains „Tom Sawyer“ haben einige Verlage wegen des häufigen Gebrauchs des Wortes „Nigger“ bereits ganz aus dem Programm geworfen.

Damit die Jugend nicht verdorben wird, gibt es seit jeher gekürzte Jugendbuchversionen von Klassikern wie dem kolonialistisch verminten „Robinson Crusoe“. Denn der Leser wird oft gern bevormundet und generell als unmündig betrachtet. Denn, ja, lesen kann lebensgefährlich sein, vor allem, wenn man Fiktion nicht von Realität unterscheiden kann. Vor 250 Jahren löste Goethes „Werther“ in ganz Europa eine Selbstmordwelle aus. Mit Warnhinweis und einer kompletten Säuberung des Werkes zu einem Happy End hin wäre das nicht passiert. Aber wer will so etwas lesen?