18.05.2024

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Folge 12-23 vom 24. März 2023 / Antje Vollmer / Der weite Weg von Bonn nach Steinort / Von der linken Pazifistin zur Biographin eines ostpreußischen Gutsbesitzers – Ein Nachruf auf eine besondere Grünen-Politikerin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-23 vom 24. März 2023

Antje Vollmer
Der weite Weg von Bonn nach Steinort
Von der linken Pazifistin zur Biographin eines ostpreußischen Gutsbesitzers – Ein Nachruf auf eine besondere Grünen-Politikerin
René Nehring

Die Theologin, Friedensaktivistin und Grünen-Politikerin Antje Vollmer ist tot. Damit endet ein Lebensweg, in dem sich die deutschen Zeitläufte des 20. und 21. Jahrhunderts auf vielfältige Weise spiegeln. Geboren wurde Vollmer am 31. Mai 1943 im westfälischen Lübbecke. Nach dem Abitur im Jahre 1963 studierte sie evangelische Theologie in Berlin, Heidelberg, Tübingen und Paris. Auf das Zweite Theologische Examen 1972 folgte ein Jahr später die Promotion zum Dr. phil. Es folgten ein postgraduales Studium der Erwachsenenbildung und eine Anstellung als Dozentin in der ländlichen Bildungsarbeit an der Evangelischen Heimvolkshochschule bei den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Bielefeld. 

Parallel dazu engagierte Vollmer sich zunehmend politisch. Wie so viele Angehörige ihrer Generation begann sie linksaußen und schloss sich zunächst der maoistischen „Liga gegen den Imperialismus“ an. Nach der Gründung der Grünen 1980 folgte Vollmer der neuen Partei, trat dieser jedoch erst 1985 bei. Als die Grünen 1983 erstmals in den Deutschen Bundestag einzogen, gehörte Vollmer – noch parteilos – der ersten Fraktion der neuen politischen Kraft an und wurde ein Jahr später Sprecherin der Fraktion. 

Berufspolitikerin war Vollmer allerdings noch nicht, vielmehr musste sie aufgrund des damaligen Rotationsprinzips der Grünen schon 1985 ihr Mandat wieder zur Verfügung stellen. 1990 verpasste sie den Wiedereinzug ins Parlament, weil die West-Grünen in der getrennten Wahl zum Vereinigungsbundestag an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. 

Nach der Wahl von 1994 wurde Vollmer die erste grüne Vizepräsidentin des Bundestags und gehörte fortan bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Parlament im Jahre 2005 nicht nur zur politischen Führung ihrer Partei, sondern der Bundesrepublik insgesamt.  

Streitbar, aber stets integer

Mit leiser Stimme, aber nicht weniger energisch stieß Vollmer immer wieder Debatten an. So, als sie in den späten 1980er Jahren einen Dialog mit der RAF anregte, um die terroristische Gewalt zu beenden, und sich dabei für Hafterleichterungen für die Terroristen einsetzte. 1999 lehnte sie den Kosovokrieg und insbesondere eine deutsche Beteiligung daran ab. Und nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sprach sie sich entschieden gegen jedes militärische Vorgehen bei der Bekämpfung des Terrorismus aus. 

Der Pazifismus war eine der großen Konstanten im politischen Leben Antje Vollmers, verleitete sie jedoch immer wieder auch zu Fehleinschätzungen der politischen Lage. So plädierte sie nach ihrem ersten Einzug in den Bundestag in den 1980er Jahren – damals noch in Bonn – für die Anerkennung der „Geraer Forderungen“ des DDR-Staats- und Parteichefs Erich Honecker, die faktisch die Anerkennung der deutschen Zweistaatlichkeit bedeutet hätten. Und noch im November 1989 erklärte sie im Bundestag, die Rede von der deutschen Wiedervereinigung sei „überholter denn je“. 

Trotz dieser und anderer Irrtümer blieb Vollmer stets persönlich integer, was ihr im Laufe der Zeit Anerkennung in allen politischen Lagern verschaffte. Immer wieder ergriff sie das Wort und brachte sich bei politischen Initiativen ein, um wichtige Impulse zu geben oder Kritik an der jeweiligen Regierung zu äußern. So setzte sie sich unter anderem für die Stärkung der Kultur in Deutschland ein und forderte dabei eine Quote für deutschsprachige Musik im Rundfunk. 

Für Furore sorgte Vollmer im Jahre 2010, als sie in ihrem Buch „Doppelleben“ das Schicksal des ostpreußisches Gutsbesitzers Heinrich Graf v. Lehndorff und dessen Gemahlin Gottliebe erzählte. Lehndorff spielte als junger Offizier eine wichtige Rolle im militärischen Widerstand rund um Henning v. Tresckow, doch gab es bis dahin außer dem Text „Leben und Sterben eines ostpreußischen Edelmannes“ seiner Cousine Marion Gräfin Dönhoff kaum Literatur, die das Wirken dieses bedeutenden Ostpreußen und letzten Besitzers des masurischen Schlosses Steinort würdigte. Umso bemerkenswerter, dass mit Vollmer ausgerechnet eine Grüne diese Lücke füllte und damit sich und ihren Lesern mit großer Empathie eine ihr bis dahin unbekannte Lebenswelt erschloss. 

Bis zuletzt bewahrte sich Antje Vollmer eine innere Souveränität in ihrem Denken und eine Widerständigkeit gegenüber der Politik; unabhängig davon, wer gerade in Berlin regierte. So gehörte sie kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 zu den Unterzeichnern eines offenen Briefes, der Bundeskanzler Scholz dazu aufrief, keine Waffen an die Ukraine zu liefern und sich stattdessen für eine Verhandlungslösung zwischen Moskau und Kiew einzusetzen. Das Wort „unangepasst“, das sich im Tagesgeschäft allzu oft gerade jene Politiker anheften, die besonders stromlinienförmig agieren, traf in ihrem Fall fast immer zu. 

Mit dem Tode Antje Vollmers verliert die deutsche Politik einen echten Charakterkopf – eine Persönlichkeit, die nicht frei von Irrtümern war, die jedoch persönlich stets aufrecht und politisch unab­hängig blieb.

Unerwartete Annäherung: Antje Vollmers Buch „Doppelleben. Heinrich und Gottliebe von Lehndorff im Widerstand gegen Hitler und von Ribbentrop“ aus dem Jahre 2010